Ueber den Einfluss des Nervensystems auf den Zustand der.Gefässe. Von Dr. Felix Putzeys und Dr. Fürst Tarchanoff. Auf den Vorschlag von Prof. Goltz haben wir den Gegen- stand seiner letzten Arbeit (Ueber Gefässerweiternde Nerven, Pflüger’s Archiv) weiter verfolgt. Wir haben uns bemüht, unter Anwendung neuer Untersuchungsmethoden die von Goltz mitge- theilten Thatsachen einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Goltz hat die Veränderungen der Hauttemperatur an den Zehen nach Durehschneidung und Reizung des Rückenmarks und der Nerven bei Hunden untersucht. In den theoretischen Betrachtungen, welche er aus seinen Beobachtungen ableitet, behauptet er: 1) Die Existenz von localen an der Peripherie gelegenen Nervenmecha- nismen, welche dem Tonus vorstehen und bis zu einem gewissen Grade die Blutcirculation reguliren; 2) Das Vorhandensein von Ge- fässerweiternden Nerven im Nervus ischiadicus, welche in Thätigkeit versetzt werden können, einmal schon allein durch die einfache Durchschneidung, dann ferner durch electrische und chemische Reizung. Diese Thatsachen veranlassen ihn dann, die Temperaturerhö- hung, welche auf die Durehschneidung oder Reizung des Nerven oder des Lendenmarks folgt, nicht als eine passive oder durch die Lähmung der Nerven hervorgerufene, sondern als eine active Er- scheinung anzusehen. A. Das erste Ziel, welches wir uns vorsetzten, war die Un- tersuchung, in welcher Beziehung der Zustand der Gefässe zu der Temperatur des gelähmten Gliedes stehe. 1) Wenn man bei einem Hunde einen Nv. ischiadicus am Ober- schenkel durchtrennt und dann die Zehen an den beiden Hinter- füssen abschneidet, so constatirt man leicht, dass der Strom des ausfliessenden Blutes auf der gelähmten Seite ein recht bedeutender ist, während er auf der gesunden nur sehr schwach oder selbst kaum vorhanden ist. Wiederholt man dieses Experiment bei jungen Enten oder Fröschen, so erhält man dasselbe Resultat. Wenn man endlich bei einem Frosche auf einer Seite die Wurzeln des N. ischiadicus bei ihrem Austritte aus dem Rücken- marke durchtrennt, so bekommt man gleichfalls einen stärkeren Blut- strom auf der operirten Seite. 2) Wenn man jetzt bei diesen Thieren das peripherische Ende des Nerven durch einen Inductionsapparat reizt, so sieht man sofort eine gänzliche Umkehr der Erscheinung: der Strom des ausfliessenden Blutes stockt auf der gelähmten Seite und wird sehr merklich auf der anderen. — Reizung durch Kochsalz gab dasselbe Resultat. Diese Wirkung würde man indessen noch erklären können durch die Muskelcontraetionen und den Tetanus, welcher in Folge der Reizung eintritt. Wir curarisirten daher junge Hunde und Frösche und beobach- teten trotzdem bei diesen Thieren dieselben Erscheinungen wie bei den nicht vergifteten, nur müssen wir noch erwähnen, dass die Frösche nur eine Verlangsamung in dem Ausströmen des Blutes, nicht einen völligen Stillstand erkennen Hessen. Um uns über den Zustand der Gefässe zu versichern, haben wir dann noch die directe Anschauung zu Hilfe genommen. Es gelang uns so bei den Enten fast unmittelbar nach der Operation eine Erweiterung derselben zu beobachten: die Gefässe des Fusses waren ausserordentlich deutlich geworden, die der Schwimmhaut boten reichere Verästelungen dar, das Blut war mehr arteriel, war röther als in der gesunden Pfote; reizten wir alsdann den Nerven der gelähmten Seite durch einen Strom von mässiger Intensität, so sahen wir die Gefässe dieser Seite sich wieder verengern, während die der andern hervortraten. Ebenso zeigte bereits die macroscopische Betrachtung der Pfote eines Frosches, dass die Durchschneidung eine lebhafte Turgescenz der Gefässe bewirkte. Wenn man dagegen den N. ischiadicus nach der Durchschnei- dung, sei es nun im Becken oder im Oberschenkel reizt, so kann man mit Hilfe des Microscops eine Verengerung der Arterien con- statiren, welche mitunter bis zum vollständigen Verschlüsse der Ge- fässe gehen kann. 3) Wenn man in allen den eben angeführten Experimenten (2) die Reizung einige Minuten hindurch fortsetzt, so sieht man die Ver- engerung nachlassen und einer Erweiterung Platz machen, welche man nur als eine Ueberreizungs-, als eine Erschöpfnngserscheinung auffassen kann. Wenn man dann eine mehr peripherisch gelegene Partie des Nerven reizt, so kann man die Gefässcontraction von Neuem beob- achten. B. 1) Die Durchschneidung des Nerven bei Hunden hat uns, ebenso wie es auch Goltz mittheilt, eine manchmal recht beträcht- liche Temperaturerhöhung in der betreffenden Extremität ergeben; wenn wir aber das peripherische Nervenende bei curarisirten Hunden reizten, so erhielten wir nicht ein Ansteigen, sondern ein Sinken der Temperatur, welches allerdings nie so weit ging, dass die gelähmte Seite ebenso kühl wurde, wie die gesunde, welches indessen doch immerhin 1%—2° C. betrug. — Bei einer Ente sahen wir in Folge der galvanischen Reizung des durchschnittenen N. ischiadicus die Temperatur um 2,5° sinken. 2) Ebenso wie Goltz, haben wir bei Hunden die Temperatur der gelähmten Extremität nach Ablauf von ungefähr 3 Wochen der der gesunden Seite gleich gefunden. Wenn man die Wirkung der Durehsehneidung und der Reizung des Nv. ischiadicus auf den Contractionszustand der Gefässe und die Temperatur des betreffenden Körpertheils vergleicht, so bemerkt man einen Parallelismus: die Gefässerweiterung entspricht dem Steigen der Temperatur, die Verengerung dem Sinken derselben. C. Wenn man bei einem Frosche, dem vorher der N. ischiadicus der einen Seite durchschnitten ist, die Zehen an beiden Minterfüssen abschneidet, so sieht man das Blut in reichlicher Menge aus der ge- lähmten Pfote ausströmen, während aus der anderen gar nichts oder fast gar nichts hervortröpfelt. Machen wir dann nach etwa 10 Tagen einen neuen Schnitt durch die Schwimmhaut, so zeigt sich, dass das Blut in ungefähr gleicher Menge von beiden Füssen herabtropft; wenn wir alsdann das Rückenmark in der Mitte des Rückens durch- schneiden oder die untere Partie desselben zermalmen, so beob- achten wir eine Erscheinung, welche der zuerst wahrgenommenen völlig entgegengesetzt ist: aus der gelähmten Pfote fliesst nun sehr wenig oder gar kein Blut aus, aus der andern strömt es sehr reichlich. Einige Tage später ist der Unterschied zwischen beiden Seiten wiederum fast verschwunden. Wiederholt man die Durchschneidung des Rückenmarks in der Weise, dass immer mehrere Tage zwischen den einzelnen Verletzungen vergehen, so zeigt sich jedesmal eine neue Vermehrung des Blut- ausflusses an demjenigen Beine, welches noch in nervöser Verbin- dung mit dem Centralorgane steht. Die Experimente dieser letzten Reihe stützen also die von Goltz gemachten; sie beweisen, dass eine vollkommene Ueberein- stimmung existirt zwischen dem Zustande der Füllung der Gefässe und der Wärme des betreffenden Körpertheils und dass die allmäh- liche Rückkehr der Temperatur zur Norm die Folge der Wiederher- stellung des Tonus ist. Wir schliessen nun aus den bisher angeführten Thatsachen Folgendes: 1) Die Wiederherstellung des Tonus in den Gefässen, welche ihre Verbindung mit den im Gehirn und Rückenmark gelegenen automatischen Centren verloren haben, lässt sich, wie schon Goltz behauptet hat, nicht anders erklären, als durch die Existenz von localen peripherischen Vorrichtungen, vielleicht nervöser Natur, welche wir nicht abgeneigt wären denen an die Seite zu stellen, welche wir in den Eingeweiden vorfinden. Der Tonus würde also in erster Instanz von diesen localen Mechanismen abhängen, in zweiter von dem im Rückenmark gele- genen Centren: entzieht inan die Gefässe dem Einfluss dieser letz- teren, so brauchen die anderen eine gewisse Zeit, um ihre ganze Macht zu entfalten. Diese Erhöhung ihrer Thätigkeit würde vor Allem begünstigt werden durch die grosse Menge von Blut, welche die gelähmten Gefässe durchströmt. Man weiss ferner, dass nach Durchschneidung des Rückenmarks die Erregbarkeit desselben in nicht unerheblichem Grade steigt. Sollte es da nicht erlaubt sein, anzunehmen, dass ganz analog die Thätigkeit der peripheren Me- chanismen, welche die Function haben, den Gefässtonus zu regu- liren, eine regere wird nach der Durchschneidung der zu ihnen ver- laufenden Nerven? 2) Der N. isehiadicus enthält vasomotorische Fasern. 3) Es ist noch nicht bewiesen, dass er auch gefässerweiternde Nervenfasern führt (in der von Goltz angenommenen Bedeutung), Nerven, welche übrigens, unserer Ansicht nach, unnöthig sind zur Erklärung der verschiedenen Erscheinungen. 4) Die Durchschneidung der Nerven und des Rückenmarks ver- ursacht ohne Zweifel eine Reizung, deren Wirkungen sehr vorüber- gehend sind und der fast unmittelbar Lähmung folgt. 5) Die Gefässerweiterung und die Temperatursteigerung, welche manchmal gleich nach Eintritt der galvanischen Reizung beobachtet werden, sind die Wirkungen der Ueberreizung. 6) Man könnte noch hinzufügen, dass die vasomotorischen Fasern nach ihrer Durchschneidung sich in einem Zustande von latenter Reizung befinden, welche in Folge eines energischen Reizes der Erschöpfung Platz macht. Auch könnte man daran denken, dass unter dem nämlichen Einflüsse die Kraft der localen Mechanismen allmählich sich erschöpft. So würde sich also, ohne die Zuhilfenahme von gefässerwei- ternden Nerven die Temperaturerhöhung erklären, welche bei Reizung eines durchschnittenen Nerven oder bei wiederholter Durchtrennung desselben beobachtet wird. Wenn Goltz die unmittelbar nach der Reizung des Hüftnerven folgende Zusammenziehung der Gefässe nicht bemerkt hat, so liegt das daran, dass die Beobachtung mit dem Thermometer, welche er hauptsächlich in Anwendung gezogen hatte, eine nicht sehr zuver- lässige Methode ist, wenn es sich darum handelt, Gefässcontractionen von nur kurzer Zeitdauer zu constatiren, denn, wie bekannt, ver- lieren die tbierischen Gewebe nur sehr langsam eine Temperatur welche sie einmal angenommen haben. Sep.-Abdr. a. d. Centralbl. f. d. raed. Wissensch. 1874. No. 41. Druck von H. S. Hermann in Berliif.