MELMGES BIOLOG IQUES TIRES DU / HÜLLETI V DE L’ACADEMIE IMPERIALE DES SCHWEES DE ST. -PETERSBOÜRG. TOME VII. 22 December 1870. 3 Januar 1871. Hemmungen und Erregungen im Central-System der Gefässnerven, von Prof. E. Cyon. Während meiner Anwesenheit in Paris im Jahre 1869 icli der dortigen Academie der Wissen- schaften eine kurze Notiz ’) über die Reflexwirkungen der sensiblen Nerven auf die Gefässnerven mit. In dieser Notiz setzte ich die vorläufigen Resultate mei- ner experimentellen Untersuchungen über eine der dunkelsten und verworrensten Punkte der Physio- logie der Gefässnerven auseinander, nämlich über die Veränderungen, welche in deren Centraltheilen vor sich gehen, wenn ihnen reflectorisch Erregungen von den Gefühlsnerven her mitgetheilt werden. Diese Veränderungen äussern sich bekanntlich in der verschiedensten Weise in ihren Wirkungen auf den Blutstrom, und zwar besteht die eine der Haupt- verschiedenheiten darin, dass das eine Mal auf Rei- zung sensibler Nerven eine Steigerung des Blutdrucks, also Erregung der Gefässnerven, das andere Mal ein Sinken des Blutdrucks eintritt, also eine Lähmung 1) E. Cyon: Sur les actions reflexes des nerfs sensibles sur les nerfs vasonioteurs. Comptes - Rendus de l’Arademie des Sciences. Paris. 1869. 30 Aoüt. 758 dieser Nerven.—Ich glaubte, durch meine Versuche auf den Grund dieser Verschiedenheiten gekommen zu sein und thcilte der Pariser Akademie in kurzen Worten denselben mit. Seitdem habe ich noch eine grosse Anzahl Ver- suche über dieselbe Frage angestellt, welche zwar in den Hauptzügen meine damals mitgetheilten Er- gebnisse bestätigten und erweiterten, aber in man- chen Nebenpunkten auch einige Modificationen nö- thig erscheinen Hessen. Es ist mir gelungen, im Ver- laufe dieser Untersuchung auf eine Reihe von Er- scheinungen zu stossen, die über manche diese Fra- ge betreffende Ansichten ganz neue Gesichtspunkte eröffnen. — Die vorliegende Mittheilung hat zum Zweck, die Endresultate dieser neuen, im Februar 1870 abgeschlossenen Versuchsreihe wiederzugeben. Die nicht ganz absichtslose Kürze meiner der Pariser Akademie mitgetheilten Notiz über diese Frage hat manche Autoren zur irrthümlichen Auffassung der- selben veranlasst; — ich halte es also für nothwen- dig, in dieser Mittheilung ausführlicher darauf zu- rückzukommen, um ein leichteres Verständniss zu er- möglichen. Die Reflexwirkungen der sensiblen Nerven auf die Gefässnerven lassen sich in anatomischer Hinsicht in zwei Gruppen eintheilen, in allgemeine und par- tielle, d. h. in solche Reflexwirknngen, welche das gesammte Gefässnervensystem beeinflussen, und sol- che, die sich nur auf das Gefässgebiet des gereizten sensiblen Nerven beschränken. — Beide Wirkungen treten gewöhnlich gleichzeitig ein und sind ihrem physiologischen Charakter nach nicht immer iden- tisch; — mit anderen Worten: während die einen Wir- kungen in reflectorischer Erregung der Gefässnerven, also in Verengerung der Gefässe, sich äussern, kön- nen die anderen im Gegentheil in reflectorischer Läh- mung dieser Nerven, also Erweiterung der Gefässe, bestehen. In der erwähnten Notiz theilte ich, wie erwähnt, den Grund dieser Verschiedenhei- ten mit, der, wie meine Versuche mir gezeigt haben, daher rührt, dass das eine Mal bei der Heizung der sensiblen Nerven die Erregung die Grosshirnlap- pen erreicht, das andere Mal — nicht. — Sind nämlich diese Hirnlappen durch Abtragung entfernt, oder durch narkotische Mittel ausser Thätigkeit ge- setzt, so tritt bei Reizung sensibler Nerven immer nur Gefässerweiterung, nie mehr Gefässverengerung ein. Da die Abtragung der Hirnhemisphären mit der Nar kotisation nur das Gemeinschaftliche haben, dass sie beide den Verlust des Bewusstseins verursachen, also die Thiere für den bei der Reizung der sensiblen Ner- ven eintretenden Schmerz unempfindlich machen, so habe ich schon damals die Vermuthung ausgespro- chen, dass es eben die Schmerzempfindung ist, wel- che die Verschiedenheit der Reflexwirkungen bedingt. — Ich habe es in meiner ersten Notiz absichtlich ver- mieden, mich darüber auszusprechen, ob die erhaltenen Ergebnisse sich nur auf die allgemeinen Reflexe bezie- hen, oder ob sie auch auf die partiellen Bezug haben. — Die damals von mir gemachten Versuche haben mir nämlich nur für die allgemeinen Reflexe ganz bestimmte Resultate geliefert; — bei dem Studium der Partial- reflexe bin ich zwar auf dasselbe Hauptresultat ge- 760 stossen, es kamen aber dabei auch andere Erschei- nungen zu Tage, welche es mir nicht gestatteten, auch für sie dasselbe Gesetz anzunehmen, welches für die allgemeinen Reflexe gültig ist. Jetzt bin ich über alle diese Punkte vollkommen in’s Reine gekommen, und es zeigte sich, dass ich Recht daran that, in der gemachten Notiz die er- wähnte Vorsicht zu gebrauchen. — Wie der Verlauf dieser Mittheilung es zeigen wird, sind die partiellen Reflexe der Gefässnerven ganz anderen Gesetzen un- terworfen als die allgemeinen. Sämmtliche von mir gemachten Versuche über die- sen Gegenstand sind an Hunden und Kaninchen ange- stellt worden. — Exstirpationen der Grosshirnlappen sind mit Erfolg nur an Kaninchen, die Narkotisa- tionen meistens an Hunden gemacht worden. — Die Abtragung der Grosshirnhemisphären kann bei ge- höriger Übung und Vorsicht mit nur ganz mini- malem Blutverluste ausgeführt werden. Ich operire gewöhnlich so, dass ich eine kleine Trepanations- Öffnung im Schädeldach mache und dann den Rest des Dachs mit einer kleinen Zange abtrage. Hat sich bei der Trepanation die Gefahr einer grös- seren Blutung herausgestellt, so streiche ich zur Vorsicht über den Sinus transversalis ein paar Mal mit einem Glüheisen, ehe ich zu seiner Eröffnung schreite. — Sehr elegant lässt sich auch oft das Ge- hirn blosslegen, indem man das Dach mit einem schar- fen Messer abträgt ohne vorherige Trepanation — die Blutung ist dabei noch geringer. — Die Grosshirn- hemisphären schälte ich gewöhnlich mit der Spatel oder dem Messerstiel aus — wobei man vermeiden muss, mit dem Instrument auf der Basis cranii unsanft her- umzugleiten, da sonst leicht durchZerreissung der Ba- salgefässe eine nicht unbedeutende Blutung entsteht. — Soll die Operation brauchbare Resultate liefern, so dürfen nur Grosshirnlappen herausgenommen werden. — Der Grund wird weiter unten angegeben werden. Zur Narkotisation der Hunde verwandte ich An- fangs Morphium und Chloroform; später habe ich im Chloral ein Mittel gefunden, das für diese Zwecke ganz unersetzbar ist. Die Resultate treten hier mit einer solchen Constanz und Deutlichkeit hervor, wie man es nicht besser verlangen kann. Ich beginne mit der Beschreibung der allgemeinen Vorgänge, welche im Gefässsystem bei Reizung irgend eines sensiblen Nerven eintreten. — In den bei weit- aus meisten Fällen verursacht eine solche Reizung beim sonst unversehrten Thiere eine allgemeine Blut- druckerhöhung, als Folge der Verengerung sämmtli- oher kleinen Gefässe des Körpers. Tn den meisten Fällen wirkt also die Reizung sensibler Nerven erre- gend auf das Centrum der vasomotorischen Nerven. — Es giebt aber auch Fälle, wo bei Reizung sen- sibler Nerven anstatt der Drucksteigerung eine Druck- verminderung eintritt; dies tritt häufiger bei Reizung gemischter Nerven als bei Reizung eines Hautnerven ein; in anderen Fällen wieder tritt zuerst eine vor- übergehende Druckverminderung ein, die aber ziem- lich schnell einer Druckerhöhung Platz macht (bei Reizung des N. laryngeus sup. ist dieses Letztere fast immer der Fall). Anders ist es aber bei Thieren, denen entweder die Grosshirnlappen auf die angegebene 762 Weise entfernt, oder die durch Darreichung der oben angeführten Substanzen vollständig bewusstlos gemacht sind. Bei solchen Tlneren tritt bei Reizung sensibler Nerven nur eine Druck Verminderung, also Lähmung sämmtlicher Gefässnerveu ein. — Die Druckvermin derung ist in verschiedenen Fällen von verschiedener Höhe, erreicht aber nie die Grösse, welche sie bei Reizung des N. Depressor erlangt. Hat man nicht nur die Grosshirnlappen, sondern auch das ganze Grosshirn exstirpirt, also nur Klein- hirn und Medulla oblongata zurückgelassen, dann tritt bei Reizung der sensiblen Nerven2) gar keine Verände- rung im Blutdrucke ein, ein Beweis dafür, dass das Gentrum der Gefässnerveu sich höher und anderswo, als in diesen erhaltenen Hirntheilen befindet. Was die allgemeinen Reflexe anbetrifft, bin ich also bei meinen späteren Versuchen zu demselben Resul- tate gelangt, das ich in der erwähnten Notiz veröf fentlicht habe. Ich habe nur später im Chloral eine Substanz gefunden, bei deren Anwendung die betref- fende Erscheinung mit besonderer Eleganz und Prä- cision einzutreten pflegt. —- Trotz der in Folge der Chloral-Vergiftung schon an sich eintretenden Blut- druckverminderung wird bei jeder Reizung der sen- siblen Nerven der Blutdruck noch mehr herabge- setzt.— Ich bin also jetzt nur in der Lage, dasthat- sächliche Ergebniss meiner früheren Versuche, was die allgemeinen Reflexe anbetrifft, vollständig zu bestätigen. Sehen wir nun zuerst, wie es mit der in der ersten Notiz gemachten Deutung dieses tliat- 2) Ich benutze dazu am häufigsten den N. Tibialis am Fusse und den N. Vagus am Halse. sächlichen Ergebnisses steht, d. h. ob ich auch be- rechtigt war, die re fl ec torische Lähmung der Va- somotoren als den reinen Reflexvorgang jeder sen- siblen Reizung zu betrachten, die Erregung derselben dagegen nur als eine Reaction des Gefässsystems auf- zufassen, welche in Folge des vom Thiere empfun- denen Schmerzes eintrete. Bei der Aufstellung dieser Deutung bin ich von folgender Betrachtung ausgegangen. Das direkte Ergebniss meiner Versuche war, dass jede Reizung sensibler Nerven in zweierlei Weise auf das Centralsystem den Gefässnerven einzuwirken im Stande ist: lähmend, wenn diese Erregung von der sensiblen Faser auf die gefässverengende unterhalb der Grosshirnlappen übertragen wird, und erregend, wenn diese Übertragung in irgend einem nicht näher festgestellten Punkt dieser Lappen vor sich geht. — Meiner Ansicht nach kann man dieses Resultat nur auf zweierlei Art deuten: 1) Es giebt zwei Centra der Vaso- motoren; das eine, dessen Erregung eine Gefässerweite- rung hervorruft und welches sich unterhalb der Gehirn- lappen befindet, und das andere, dessen Erregung zu ei- ner Gefässvereugerung führt und in welchem dieser Lappen selbst liegt; bei dieser Deutung muss man noch annehmen, dass dieses zweite Centrum durch narkoti- sche Mittel ausser Thätigkeit gesetzt werden kann. 2) Es giebt nur ein Centrum der Gefässnerven, das sich unterhalb der Grosshirnlappen befindet, welches, wenn es nur von den sensiblen Nerven direkt Reize erhält, durch dieselben gelähmt, wenn es aber erst durch die Grosshirnlappen die Erregungen erhält, durch dieselben erregt und in seiner Thätigkeit verstärkt wird. Da 764 die Gehirnlappen als der Sitz des Bewusstseins be- trachtet werden müssen, da ferner diese Lappen in unseren Versuchen dem Gefässnervencentrum nur im Moment einer schmerzhaften Reizung sensibler Ner- ven erregende Impulse zusandten, und da endlich diese Impulse nicht mehr ausgeschickt werden, sobald die Grosshirnlappen durch Anwendung von hypnotischen Mitteln ausser Stand gesetzt sind, Schmerz zu em- pfinden, so kann man auch den Schmerz als das Mo- ment betrachten, welches bei Reizung sensibler Nerven die Grosshirnlappen bestimmt, dem Gefässnervencen- trum erregende Impulse mitzutheilen. Ich habe mich in meinem der Pariser Akademie ein- gereichten Memoire zu Gunsten dieser zweiten Deutung ausgesprochen, weil die der ersten zu Grunde gelegte Annahme zweier Nervencentra für das Gefässsystem, von denen das eine durch hypnotische Mittel gelähmt werden sollte, an grosser innerer ünwahrscheinlich- keit litt. Seit dem Erscheinen meiner Arbeit ist von ande- rer Seite her der Versuch gemacht worden, die Stelle des Gefässnervencentrums genauer zu localisiren; man ist dabei vorläufig zu dem Resultate gelangt, dass das gefässverengende Centrum sich jedenfalls unterhalb der Grosshirnlappen befindet. — Die erste Deutung meiner Versuche ist also jetzt nicht mehr unwahr- scheinlich, sondern geradezu unmöglich. Man muss also zur zweiten, schon damals von mir bevorzugten, seine Zuflucht nehmen. — Wenden wir uns nun zur Betrachtung der partiellen Reflexe der Gefässnerven. Unter dieser Bezeichnung versteht man bekanntlich diejenigen Vorgänge, die auf Reizung sensibler Nerven in den Gefässen eiutreten, welche sich in der Region des gereizten Nerven befinden. Diese von Schiff, Snellen und Löven untersuch- ten Reflexe sind weniger inconstant als die allge- meinen Reflexe, von welchen oben die Rede war; nur treten hier am häufigsten die reflectorisch-lähmenden Wirkungen hervor. Bei Reizung des centralen Tliei- les eines sensiblen Nerven (z. B. des N. auricularis po- sterior, N. dorsalls pedis) erweitern sich gewöhnlich die Gefässe, welche sich in der Gegend des gereizten Nerven befinden; fast immer aber geht dieser Erwei- terung eine kurze vorübergehende Verengerung der- selben Gefässe voran; nur in seltenen Fällen gelingt es gar nicht, die Gefässerweiterung zu beobachten, vielmehr die eingetretene Gefässverengerung bleibt anhaltend während der ganzen Dauer der Reizung. Als ich durch die oben besprochenen Versuche über die Ursache der Incoustanz der bei Reizung sen- sibler Nerven eintretenden allgemeinen Reflexe Aufklärung erhalten hatte, wollte ich ermitteln, ob dieselben Ursachen nicht auch für die partiellen Reflexe von derselben Bedeutung seien. Zu diesem Behufe stellte ich Versuche über diese Reflexe an Thieren au, bei denen die Gehirnlappen durch Ex- stirpation oder Narkotisation ausser Thätigkeit ge- setzt worden waren. Da diese partiellen Reflexe besonders schön und leicht nur an Kaninchen zu beobachten sind, so sind meine hierauf bezüglichen Versuche ausschliesslich an diesen Thieren angestellt worden. Leider vertragen Kaninchen sehr schlecht oder gar keine Narkotisation durch Chloroform oder Chloral. Die jetzt folgenden Resultate sind also fast 766 sämmtlich an den der Hemisphären beraubten Thieren gewonnen worden. Schon bei den ersten Versuchen, welche ich mit Reizung sensibler Nerven bei Kaninchen, deren Gross- hirnlappen ausgeschält wurden, anstellte, überzeugte ich mich davon, dass hier die Verhältnisse sich viel schwieriger einer Erklärung fügen, als bei den allge- meinen Reflexen. Was man mit Sicherheit constatiren konnte, war nur der Umstand, dass auch die partiellen Reflexe von der erwähnten Operation bedeutend beeinflusst wurden. Vorerst war zu bemerken, dass man bei so operirten Kaninchen nicht mehr den gewöhnlichen Typus der partiellen Reflexe beobachtet, der, wie ge- sagt, in einer schnell vorübergehenden Verengerung besteht, welcher dann eine anhaltende Erweiterung folgt. Entweder beobachtet man bei solchen Kaninchen eine sofort ohne vorhergehende Verengerung eintre- tende Erweiterung der Gefässe, oder nur Verenge- rungen, die aber die Reizung lange überdauern und oft überhaupt nicht mehr nachlassen. Schon bei den ersten Versuchen fiel mir eine ge- wisse Unabhängigkeit dieser Verengerungen von der stattfindenden Reizung auf; nicht nur überdauerten sie diese Reizung, sondern ihre Stärke stand in gar keiner Beziehung zur Intensität dieser letzteren, ja in einigen Fällen sah ich sie in der Art. saphena auch ohne vorhergehende Reizung auftreten. Dies Alles veranlasste mich bei der ersten der Pa- riser Akademie mitgetheilten Notiz über diesen Punkt mich äusserst vorsichtig auszusprechen; da ich dann eigentlich nur die eine Thatsache mit Sicherheit cou- statirt hatte, dass der Charakter der partiellen Reflexe nach der Exstirpation der Grosshirnlappen bedeutend modificirt wird. Seitdem habe ich die Natur dieser Modificationen näher und eingänglicher studirt und glaube befriedi- genden Aufschluss über die so complicirten Vorgänge erlangt zu haben. Zuerst wendete ich meine Aufmerksamkeit den so- eben beschriebenen Verengerungen zu, welche nach Exstirpation der Grosshirnlappen eintreten. Ich be- schränkte mich darauf, während längerer Zeit die Ver- änderungen zu beobachten, welche mit der blossgeleg- ten Arterie vor sich gehen, nachdem die Hirnlappen entfernt sind. Dabei constatirte ich bald, dass diese Verengerungen nichts mit der Reizung sensibler Ner- ven zu tliun haben. Sie treten auch ohne Reizungen ein, dauern eben so lange ohne Reizung wie mit Reizung und verschwinden nur unter Bedingungen, welche mit der Erregung sensibler Nerven in keiner Beziehung stehen. Aber nicht nur die Ursache des Eintretens dieser Verengerungen, sondern die Art und Weise ihres Auf- tretens zeigte, dass wir es hier mit einer ganz eigen- thümlichen Erscheinung zn thun haben, welche ganz heterogen der sonst auftretenden Reflexverengerungen ist. — Diese Verengerungen traten nämlich nicht gleichzeitig in der ganzen Länge der Art. saphena ein, sondern zeigten sich bald an der einen, bald an der andern Stelle derselben. Sie hatten also den Cha- rakter localer Einschnürungen der Gefässe, welche bald in der Richtung nach oben, bald in der nach unten sich fortpflanzen, wobei oft die Einschnü- 768 rung der zuerst ergriffenen Stelle sich peristaltisch weiter bewegt. — Ich wurde bei diesen Beobachtun- gen sofort an die von Traube beschriebenen selbst- ständigen Pulsationen der Arterienwände erinnert, welche er besonders bei Kohlensäure- oder Curare- vergiftungen an den Ohrgefässen hervortreten sah. Ich überzeugte mich aber bald, dass man diesen Be- wegungen nicht den Charakter rhythmischer Contrac- tionen beilegen kann, weil sie zu unregelmässig auf- traten, sich von einer Stelle des Gefässes auf die an- dere fortpflanzten und mehr Ähnlichkeit mit peristal- tischen Bewegungen zeigten. Aber auch von diesen unterschieden sie sich dadurch, dass sie oft spontan an einer Gefässstelle entstehen und dann nicht etwa regelmässig nach der einen Richtung, sondern nach beiden Richtungen gleich häufig sich fortpflanzen. Die Unregelmässigkeit in ihrem Auftreten erweckte in mir sogleich den Verdacht, dass wir es hier gar nicht mit vom Centralnervensysteme beherrschten Er- scheinungen zu thun haben, einen Verdacht, der da- durch bedeutend an Kraft gewann, dass es mir ge- lang, dieselben Verengerungen auch an solchen Ka- ninchen zu beobachten, denen das ganze grosse Ge- hirn herausgenommen wurde, die also nur noch die Medulla oblongata und das Kleinhirn behielten und deren Gefässnervencentra also ganz ausser Verbin- dung mit den peripherischen Vasomotoren gesetzt worden waren. Ja, bei Thieren, die auf diese letzte Art operirt waren, traten die Verengerungen noch viel sicherer und prägnanter ein als bei den früheren. Um zu sehen, wie weit der eben ausgesprochene Ver- dacht begründet sei, durchschnitt ich die Nerven- zweige, welche die Art. saphena begleiten, und die, wie Löven gezeigt hat, die vasomotorischen Fasern dieses Gefässes führen. Auch diese Durchschneidung blieb ohne jeden stö- renden Einfluss auf Eintritt und Verlauf dieser Ver- engerungen; eher liess sich ein befördernder Einfluss dieser Operation constatiren. \ erengerungen von ganz demselben Charakter konnte ich auch an anderen Gefässen des Körpers ausser denen des Ohres und der Art. saphena beob- achten, am schönsten an solchen, die nicht von Mus- keln geschützt sind, sondern oberflächlich unter der Haut verlaufen. Es entsteht nun die Frage, welcher Natur diese spontan auftretenden und verschwindenden Verenge- rungen sind, welche vom Centralnervensystem unab- hängig und nur dann eintreten, wenn das Thier irgend welchen schädlichen Eingriffen unterworfen wird, wie Exstirpationen des Gehirns, Vergiftungen durch Koh- lensäure, Curare (Traube) und durch salpetrigsaures Amyloxyd (Lauder, Brunton). Ich halte nach Allem, was ich bis jetzt über diese Art von Gefässnervenvcr- engerungen mitgetheilt habe, die Behauptung für ge- rechtfertigt, dass diese Verengerungen gar keine func- tionelle Bedeutung haben und einfache Symptome des Absterbens der Gefässwände in Folge der Blossle- gung derselben,'der Aufhebung oder Verminderung der vom Centralnervensysteme ihnen im normalen Zu- stande zugeführten Impulse, oder endlich der Vergif- tung sind. Man kann bei längerer Beobachtung dieser Ein- schnürungen sich nicht der in die Augen springenden 770 Analogie derselben mit den in absterbenden oder krank- haft afficirten Skeletmuskeln auftretenden fibrillären Zuckungen entweliren. Wegen des ringförmigen Ver- laufs der Fasern der Gefässmuskeln müssen natürlich ihre Zuckungen zur Einschnürung der Gefässe führen. — Dass wir es bei dieser Art Gefässverengerungen wirklich mit einer Erscheinung zu thun haben, wel- che nur anormal in Folge des Absterbens der Gefäss- wände auftritt, geht auch aus der mehrmals von mir gemachten Beobachtung hei vor, dass die einzige Möglichkeit, diese Verengerungen zum Verschwinden zu bringen und die Gefässe ihr früheres Lumen an nehmen zu lassen, darin besteht, dass man die Ge- fässe sorgfältig befeuchtet und mit dem Fell des Thie- res wieder bedeckt. Lässt man so die Arterie 8—10 Minuten geschützt vor äusseren Einwirkungen ver- weilen und entblösst sie von Neuem, so sieht man meistens, dass sie sich wieder erweitert hat und alle Einschnürungen verschwunden sind, um aber bald wiederzukehren, sobald das Gefäss einige Augen- blicke den äusseren Schädlichkeiten von Neuem aus- gesetzt bleibt. Das Gesagte schliesst natürlich nicht die Mög- lichkeit des Vorkommens anderer vom Centralnerven- systeme abhängigen Bewegungen in den Gefässwän- den aus. Nur soviel ist aber durch meine Versuche gewonnen worden, dass der wahre Charakter dieser auftretenden Zusammenschnürungen erkannt worden ist; ich konnte also bei meinen Untersuchungen über die partiellen Reflexe zwischen diesen Verengerungen und sonstigen vielleicht vorkommenden leicht unter- scheiden. Wenn man von diesen mit dem Nervensysteme in gar keiner Beziehung stehenden Verengerungen absieht, so stellt sich heraus, dass man bei Reizung des sen- siblen Nerven eines der Grosshirnlappen beraubten Thieres nie refl ec torische Verengerungen der Ge- lasse beobachtet. Im Gegentheil, die Gelasse der Re- gion, zu welcher der gereizte Nerv gehört, erweitern sich sofort ohne jede vorhergehende Verengerung. — Nur gehen bei diesen Versuchen viele Thiere nutzlos dadurch verloren, dass der Eintritt der beschriebe- nen Verengerungen so schnell nach Blosslegung der Arterie es oft unmöglich macht, die partiellen Reflexe zu beobachten. Bei einer oberflächlichen Betrachtung scheint also die Abtragung der Grosshirnlappen von identischer Bedeutung sowohl für die allgemeinen, als auch für die partiellen Reflexe zu sein. Im Grunde ist dem aber nicht so. Die allgemeinen Reflexe der Gefässnerven verän- dern durch diese Abtragung ganz ihren Charakter, in- dem anstatt der sonst bei Reizungen am häufigsten eintretenden allgemeinen Gefässverengerungen jetzt nur Erweiterungen Vorkommen — während die partiellen Reflexe nach wie vor der Abtragung in einer Ge- fässerweiterung bestehen, nur mit dem Unterschiede, dass vor derselben dieser Erweiterung eine momen- tane Verengerung vorangeht, während nach dieser Operation diese vorübergehende Verengerung fehlt. Mit anderen Worten, während bei Thiereu, die das Bewusstsein und also die Möglichkeit, Schmerz zu empfinden, behalten haben, die Reizung der centralen Enden sensibler Nerven als Reaction von Seiten der 772 Gefässnerven am häufigsten eine allgemeine Erre- gung zur Folge hat, tritt nach Abolirung dieses Yer mögens, Schmerz zu empfinden, immer eine reflec- torische allgemeine Lähmung der Gefässnerven ein. Die partiellen Reflexe aber bestehen sowohl bei vor- handenen, als bei abwesenden Gehirnlappen in einer reflectorischen Lähmung der Gefässnerven der ent- sprechenden Region; der Unterschied in der Er- scheinung ist nur der, dass dieser Lähmung bei er- haltenen Grosshirnlappen oft eine kleine reflectorische Erregung dieser Nerven vorangeht, während nach Ex- stirpation dieser Gehirnlappen dieselbe fehlt.—Dieser letzte Umstand, verbunden mit dem oben über die Veränderungen der allgemeinen Reflexe nach Abtra- gung der Grosshirnlappen Ermittelten, deutet darauf hin, dass diese Erregung der localen Gefässnerven, wel- che der Erweiterung vorangeht, überhaupt nicht den Charakter eines partiellen Reflexes an sich trägt, welcher ihnen bis jetzt von den Physiologen vindicirt wurde. Diese transitorische Erregung ist näm- lich nur eine Theilerscheinung der allgemei- nen Reflexe der Vasomotoren, welche auf Rei- zung sensibler Nerven eintreten, eine Theiler- scheinung, die aber bald verschwindet und der Lähmung der localen Gefässe Platz macht. Diese Lähmung ist also die alleinige specifi- sche Reaction der partiellen Reflexe. Behalten wir diesen allgemeinen Charakter der vor- übergehenden Erregung der localen Gefässnerven im Auge, so müssen wir die Wirkung der Abtragung der Grosshirnlappen auf die partiellen Reflexe so defini- ren: diese Abtragung hat auf die wirklich partiellen 773 Reflexe gar keinen Einfluss, denn dieselben bestehen sowohl vor, wie nach dieser Operation in einer Läh- mung der Gefässuerven, welche der Region des ge- reizten Sensiblen entsprechen. Das nach der Abtra- gung beobachtete Verschwinden der transitorischen Erregung dieses Gefässuerven hängt also nur von den Veränderungen ab, welche diese Operation in den allgemeinen Reflexen veranlasst, von denen die Erregung nur eine Theilerscheinung ist. Die experimentellen Thatsachen, welche durch die vorliegende Untersuchung gewonnen wurden, gestat- ten folgende Schlüsse über die Wirkungen der sensi- blen Nerven auf die vasomotorischen. 1) Jede Erregung eines sensiblen Nerven, wenn sie direkt auf das Centrum der Gefässnerven im Gehirn übertragen wird, setzt den Tonus sämmtlicher Gefäss- nerven herab. — also allgemeine reflectorisch läh- mende Wirkung. 2) Wird eine solche Erregung sensibler Nerven zu- erst auf die Grosshirnlappen übertragen und von dort erst auf das Centrum der Gefässnerven, so wird der Tonus sämmtlicher Gefässnerven erhöht — also re- flectorisch erregende Wirkung. 3) Ausser diesen Wirkungen auf das gesammte Ge- fässnervensystem hat jede Reizung eines sensiblen Nerven noch einen speciellen Einfluss auf die Gcfässe der ihm benachbarten Region — dieser Einfluss ist immer ein reflectorisch lähmender und wird direkt auf die betreffenden Gefässuerven übertragen. Durch die Schlüsse ad 1 und 2 lernen wir eine Eigentümlichkeit der Wirkungen von Nerven auf Centraltheile kennen, zu der ich keine Analogie in der Physiologie auffinden kann. Diese Eigentümlichkeit besteht darin, dass eine Erregung, welche von ei- nem Nerven ausgeht und ein und dasselbe Central- theil trifft, ganz entgegengesetzte Wirkungen in die- sem Centraltheile zu erzeugen vermag; je nach der Bahn, welche diese Erregung wählt, um vom periphe- rischen Nerven zum Centraltheil zu gelangen, ist sie im Stande, ihn das eine Mal zu lähmen, das andere Mal zu erregen. Das reiche Gebiet der dunkeln Vorgänge, welches die hemmenden und erregenden Wirkungen der Ner- ven auf die Ganglienzellen umfasst, wird also da- durch um einen neuen Process vermehrt. Je mannig- facher und verwickelter die Erscheinungen auf die- sem Gebiete werden, desto dringlicher wird die Notwendigkeit, irgend eine Erklärung derselben zu besitzen, die, wenn sie auch keine Ansprüche auf voll- ständige Exaetheit machen kann, doch mindestens im Stande wäre, uns irgend eine Vorstellung von den diesen Erscheinungen zu Grunde liegenden Vorgän- gen zu geben. — Eine solche Erklärung wird um so nützlicher sein, je grösser die Zahl der Erscheinun- gen sein wird, auf welche sie sich beziehen kann. Ich will in den folgenden Zeilen versuchen, eine Hypothese zu geben, welche die hierher gehörigen Er- scheinungen der Wirkungen von Nerven auf die mit ihnen in Verbindung stehenden Ganglienzellen erklären soll. Natürlich bin ich weit von der Idee entfernt, für meine Hypothese irgend welchen definitiven Werth zu beanspruchen. Sie hat eben nur den Vorzug einer grossen Ein- fachheit und Allgemeinheit, indem sie sich ohne Schwie- 775 rigkeiten auf die Reflexvorgänge der Skeletimiskeln anwenden lässt, und dabei mit unseren sonstigen phy- sikalischen und physiologischen Begriffen in keinen principiellen Widersprüchen steht. Ich werde meine Betrachtung an die Erscheinung anknüpfen, welche durch diese Untersuchung an den Tag getreten ist, weil sie durch die geringe Zahl der hei ihr betheiligten Faktoren ziemlich einfache Ver- hältnisse darbietet, während ich am Schlüsse dieselbe Betrachtung mit Zuhülfenahme der durch sie gewon- nenen Sätze aut complicirtere Verhältnisse, nämlich auf die beschleunigenden und hemmenden Nerven des Herzens, an wenden werde. Bezeichnen wir durch A den Punkt des sensiblen Nerven, auf welchen der Reiz eingewirkt hat, durch B das Centrum der Gefässnerven im Gehirn, das wil- der Einfachheit wegen uns als eine einzige Ganglien- kugel denken wollen, und durch C eine andere Gang- lienkugel in den Grosshirnlappen. AC wird die Ner- venfaser sein, welche den gereizten Punkt des Nerven A mit C verbindet; AB die Nervenfaser zwischen A und B undZ?CT eine Nervenfaser, welche B mit C ver- einigt. — Die durch unsere oben mitgetheilten Ver- suche ermittelte Thatsache lautet also, dass eine vom Punkte A nach B übertragene Erregung die Gang- lienkugel B lähmt, wenn die Erregung ihren Weg durch die Faser AB genommen hat, dass sie im Gegentheil diese Ganglienkugel B in versetzt, wenn sie, um zu B zu gelangen, ihren Weg durch die Fa- sern CB gewählt hat. Um den wirklich vorhandenen Sachverhalt genau wiederzugeben, müssen wir noch hinzufügen, dass B 776 sich im Augenblicke, wo die von A ausgehenden Reize dasselbe treffen, schon in tonischer Erregung befindet, deren Quelle für unseren Zweck unberücksichtigt ge lassen werden kann. Suchen wir nun nach einer Erklärung, warum die durch AB gelangende Erregung die schon früher in der Ganglienkugel B vorhandene Erregung vermindert oder auf hebt, dagegen die durch AC-t- CB gelangende die Kugel B noch mehr erregt, so stossen wir auf folgende zwei Möglichkeiten: entweder 1) ist die von A aus- gehende Erregung bei ihrem Verweilen in der Gang- lienkugel C in ihrer Natur verändert worden, oder 2) die Erregung kam durch CB unverändert in B an, aber die Art der Endigungsweise AB und CB in der Ganglienzelle B ist derart verschieden, dass die gleich- artigen Erregungen, die durch diese Endpunkte in die Ganglienzelle ankommen, entgegengesetzte Wirkun- gen äussern, indem die von CB ankommenden sich zu der schon früher in B bestandenen Erregung addiren, die von AB anlangenden sich von dieser letzteren sub- trahiren. Prüfen wir nun, welche dieser beiden Annahmen mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat, so scheint es beim ersten Blick die erste zu sein; sowohl weil sie mit dem, oben von mir über die Erregung des Schmerzes in den Ganglienzellen der Grosshirnlappen (C) Gesagten in Einklang steht, als auch weil es natürlicher erscheint anzunehmen, dass die in C transformirte Erregung mehr Gleichartigkeit mit der in B schon früher vor- handenen hat und darum sich zu ihr leichter addiren kann, als die elektrische Erregung, welche direkt vom Punkte A in B anlangt und ihrer fremdartigen Natur wegen die in B vorhandene eher schwächen könnte. So bestechlich diese Annahme auch ist, so müssen wir doch auf dieselbe aus mehreren Gründen verzich- ten. Was ich oben von der Erregung des Schmerzes bei der Reizung sensibler Nerven gesagt habe, hatte gar nicht die Absicht, der aus dieser Schmerzempfindung hervorgehenden Erregung der Gefässnerven irgend einen speciellen Charakter zuzuschreiben, sondern sollte nur auf die anatomische Stelle hinweisen, in welcher die indirekte Übertragung der Reizung von den sensiblen Nerven auf die Gefässnerven stättfindet. Es giebt aber in der Physiologie einen allgemein gül- tigen Satz, welcher die oben erwähnte erste Annahme geradezu unzulässig macht. Das ist der Satz, welcher die Erregungsvorgänge im Nerven (also die in ihm vor sich gehenden Molekularveränderungen bei der Er- regung) für identisch erklärt, welcher Natur der die Erregung auslösende Reiz auch sein mag. Welcher Art also der von C der Faser CB mitge- theilte Reiz auch sei, der Erregungsvorgang in der- selben muss Kraft dieses Satzes als identisch mit dem in AC oder AB betrachtet werden. Nun ist dieser Satz zwar allgemein als richtig an- erkannt, aber bei Weitem nicht über alle Zweifel er- hoben; so lange wir aber eine Erklärung der uns in- teressirenden Vorgänge finden können, ohne in Wi- derspruch mit diesem Satze zu gerathen, müssen wir einen solchen zu vermeiden suchen. Wenden wir uns daher zu der zweiten Möglichkeit, der nämlich: die Erregungen, welche die Fasern CB und AB der Ganglienkugel B zuführen, seien gleichar- 778 tig; die Art ihrer Endigungen in der Zelle sei aber verschieden, und diese Verschiedenheit bedinge es, dass die Erregung der ersten Faser den Tonus der Ganglienkugel B erhöht, die Erregung der zweiten aber diesen Tonus vermindert. Es ist uns also noch der schwierigste Theil unserer Aufgabe zu lösen geblieben, nämlich die Vorrichtun- gen in den Endapparaten zu erforschen, welche diese Verschiedenheiten der Wirkungen ermöglichen. Ehe wir aber dies zu thun versuchen, wollen wir einige Worte über die Natur der Vorgänge in den Nerven vorausschicken, welche wir als Erregungsvor- gänge bezeichnen. Ein den Nerven treffender Reiz er- zeugt in ihm einen Erregungsvorgang, der sich nach beiden Richtungen der Nervenfaser fortpflanzt. Die Bewegungart dieser sich im Nerven fortpflanzenden Er- regung ist, wie die schönen Versuche von Prof. Bern- stein aus Heidelberg gezeigt haben, eine wellenför- mige; diese Versuche haben ferner gelehrt, dass wie bei jeder wellenförmigen Bewegung, so auch im Nerven Interferenzen von Wellen entstehen können, z. B. im elektrotonischen Zustande.—Was ist hiernach natürli- cher, als die Aufhebung der in einer Ganglienkugel vor sich gehenden Bewegung durch die Erregung einer so- genannten hemmenden Faser auch einer Interferenz der beiden wellenförmigen Bewegungen zuzuschreiben? Die Erklärung der Hemmungserscheinungen durch Inter- ferenz hatte noch vor der Bernstein’sdien Arbeit viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich als die andere ihr gegenüberstehende Theorie, welche annimmt, dass die Hemmungsnerven mit einer besonderen Vorrichtung in den Ganglien enden, die es ihnen gestattet, die 779 Widerstände zu vermehren, welche der Auslösung von Bewegungen in den Ganglien entgegen stehen sollen. Diese letztere Theorie, welche also auf eine Reihe sonst überflüssiger Voraussetzungen basirt ist, reicht auch nur für einzelne Fälle von reinen Hemmungsner- ven aus, ist aber für andere Fälle (wo z. B. ein Nerv, der sonst die Ganglienzellen erregt, plötzlich zum Hemmungsnerv wird, sobald diese Zelle von einem anderen ihm gleichartigen Nerven schon in Erregung versetzt ist) ganz unzureichend. Jetzt aber, wo wir Dank Bernstein’s Untersu- chungen sowohl über den wellenförmigen Charakter der im Nerven vor sich gehenden Bewegungen, als auch über die in diesen Bewegungen vorkommenden Inter- ferenzen so viel direkte Aufschlüsse erhalten haben, ist es geradezu unstatthaft, zu bodenlosen Vorausset- zungen seine Zuflucht zu nehmen, um eine ungenügende Theorie von Widerstandsvergrösserungen zu stützen. Im Laufe dieser Discussion wird noch eine wohl constatirte Thatsache angeführt, welche dafür spricht, dass wir die Hemmung als eine Interferenzerscheinung zweier wellenförmigen Bewegungen betrachten müssen. Ist dem nun so, dann lautet die jetzt zu lösende Aufgabe folgendermassen: Welche Vorrichtungen an den Enden der hemmenden Fasern bedingen es, dass die durch ihre Vermittelung den Ganglien zugeführ- ten Bewegungen mit den, von anderer Seite her den Ganglien mitgetheilten, Interferenzen bilden? Diese Vorrichtungen konnten entweder in besonde- ren Apparaten bestehen, oder durch die Lage der Eintrittstelle des hemmenden Nerven zu der Aus- 780 oder Eintrittstelle der erregenden Nerven von selbst gegeben sein. Der mechaniche Zweck dieser Vor- richtungen kann ein doppelter sein, entweder muss diese Vorrichtung im Stande sein, die von der hem- menden Faser ankommende Bewegung um die Zeit- dauer einer halben Wellenlänge später der motori- schen Faser mitzutheilen, als diese Faser die Bewe- gung von der erregenden Faser erhalten hat, oder sie giebt dieser Bewegung eine solche Richtung, dass sie in jedem Moment mit der Bewegung der erregenden Faser interferiren muss. Um das Gesagte an dem von uns gewählten Beispiel anzuwenden, so müsste die Vorrichtung an der Eintrittstelle der Faser AB in die Zelle B bezwecken, entweder die von AB ankom- mende Erregungswelle um eine halbe Wellenlänge hinter der zu verzögern, welche von andrer Seite her der motorischen Faser der Ganglienzelle B, BD (wie wir die vasomotorische Faser bezeichnen wollen) mitgetheilt wird, oder der Bewegung von AB eine solche Richtung zu geben, dass sie mit der in BD Interferenzen bilden muss. Die Annahme aber, dass die Eintrittstellen der hemmenden Nerven besondere Apparate zu dem eben auseinandergesetzten Zwecke besitzen, ist sehr un- wahrscheinlich. Nicht nur ist es trotz der vielfachen Untersuchungen mit dem Mikroskope nicht gelungen, irgend etwas von besonderen Apparaten zu bemerken, sondern eine solche Annahme könnte nur für die rein hemmenden Fasern gemacht werden; für diejenigen Fasern aber, die nur unter gewissen Bedingungen hemmend, sonst aber immer erregend wirken, ist die Annahme von constant existirenden Apparaten, die die 781 Faser immer zur hemmenden machen müssen, ganz unzulässig. Die einzig offen bleibende Möglichkeit wäre die, dass die Vorrichtung, durch welche eine Nerven- faser zur hemmenden wird, durch die Lage der Ein- trittstelle dieser Faser im Verhältniss zu der Ein- oder Austrittstelle der erregenden oder motorischen gegeben ist. — Die Beobachtung, dass, in welchem Moment auch eine hemmende Faser erregt wird, sie immer und anhaltend eine Interferenz der Bewe- gungen bedingt, zeugt gegen die Abhängigkeit dieser Interferenz von dem zeitlichen Zusammentreffen der Wellen. Viel einfacher und wahrscheinlicher kommt die Interferenz durch die Richtung der auf einander stossenden Wellen zusammen. Fassen wir das Gesagte zusammen, so stellt es sich heraus, dass wir auf Grund der jetzt bekannten phy- siologischen Fakta zu der einzig möglichen Annahme gedrängt werden, dass die hemmende Funktion einerNervenfaser nur durch den Winkel bedingt ist, welchen diese Faser beim Eintritt in die Ganglienkugel sowohl mit der austretenden motorischen, als mit jeder andern in die Gang- lienkugel eintretenden Faser bildet. Diese Annahme lässt sich, wie wir gesehen haben, in der einfachsten und ungezwungensten Weise, ohne jede Zuhülfenahme irgend welcher Voraussetzungen, von den gültigsten und bekanntesten thatsächlichen Sätzen der Physiologie ableiten. Sie hat auch den Vorzug, dass sie es erlaubt, uns eine klare Vor- stellung von den bei den Hemmungsprocessen vor- sich gehenden Bewegungen zu machen und, was noch wichtiger, alle die complicirten und sich widerspre- chenden Thatsachen, welche die Physiologie über die HemmungsVorgänge in den Ganglien besitzt, leicht und ungezwungen zu erklären. Ich will hier nur ein paar Beispiele vorführen, die das Gesagte erläutern werden. Fassen wir zuerst die Erscheinungen in’s Auge, welche bei der Hemmung von Reflexbewegungen beobachtet werden. Reizung einer Hautfaser der unteren Extremität ruft in gewissen Skeletmuskeln Contractionen hervor; wird aber gleich- zeitig der Thalamus opticus (Setschenoff), oder der Plexus brachialis (Herzen und Schilf), oder irgend eine Stelle des Rückenmarkes gereizt, so wird die von jener sensiblen Hautfaser sonst veranlasste Contraction ge- hemmt. Die Ursache der Hemmung ist mit Hülfe der gemachten Annahme leicht erklärlich: das erste Mal traf die Erregung die Ganglienkugel in Ruhe — die ihr mitgetheilte Bewegung hat sich also ungestört auf ihre motorische Faser fortpflanzen können. Das zweite Mal stiess die von der einen Faser kommende Bewe- gung auf eine vom Plexus brachialis kommende, und die beiden Bewegungen hoben sich gegenseitig auf. weil wahrscheinlich der Winkel, den die beiden sensiblen Fasern mit einander bilden, es mit sich bringt, dass ihre beiderseitigen Wellen Interferenzen bilden müssen. So erklären sich die meisten Differenzen, welche in den reflectorischen Erregungen und Lähmungen der Herz- und Gefässnervencentren auf Reizung der sen- siblen Nerven beobachtet werden. Das eine Mal trifft die Erregung eine in Ruhe befindliche Zelle, das an- dere Mal eine in Erregung versetzte; daher wird es 783 das erste Mal die Nervenzelle erregen, das andere Mal die schon vorhandene Erregung hemmen. Die so verschiedenartigen Wirkungen der in’s Herz eintretenden Nerven lassen sich sehr leicht sogar hei der Annahme erklären, dass es nur eine Art Ganglien im Herzen giebt, in denen sämmtliche Herznerven enden. Die Verschiedenheiten der Winkel, welche die Enden des Vagus und die Enden der Nervi acceleratorii mit einander, sowie auch mit den sensiblen in die Zelle eintretenden und mit der aus ihr austretenden moto- rischen Faser bilden, genügen vollkommen, um die Verschiedenheiten der Wirkungen dieser Nerven zu erklären; wodurch übrigens nicht behauptet werden soll, dass diese Nerven wirklich in denselben Ganglien münden3). — Natürlich muss eine solche Wirkungs- weise der hemmenden Herznerven wirklich mit einem Verlust an Reizkräften verbunden sein. Dieser Verlust ist aber nicht ganz nutzlos, da durch diese Hemmungen eben eine andere Verthei- lung der Arbeit des Herzens in der Zeit gewonnen wird4). — Man darf in der Thatsache, dass bei Va- gusreizung die seltneren Contractionen auch kräftiger sind, keinen Einwand gegen diese Wirkungsweise des Vagus suchen, da die stärkeren Contractionen ja nicht durchaus durch eine Aufspeicherung von Reizkräften bedingt sein müssen, — sie lassen sich ja viel leichter 3) Das Letztere ist sogar wahrscheinlicher. Siehe: E. Cyon. De l’influence de l’oxigöne etc. Comptes-rendus. 1867. 4) M. und E. Cyon. Über die Innervation des Herzens. Dubois- Reymond’s Archiv 1867. 784 durch eine Ersparnis an Spannkräften in der Mus- kelsubstanz selbst erklären. Man kann mir noch denEinwand Vorbringen, dass, wenn meine Erklärung richtig sei, man erwarten sollte, dass alle hemmenden Nerven unter Umständen zu bewegenden werden könnten — doch kennen wir ja Nerven, wie der Vagus und der Depressor5), die immer hemmend wirken. — Dieser Einwand ist aber darum nicht von Belang, weil er sich durch die An- nahme leicht erklären lässt, der Winkel, den diese Nerven mit der motorischen Faser bilden, sei der Art, dass Bewegungen, welche von ihnen ausgehen, sich nie direkt auf die letzteren fortpflanzen können. — Es ist übrigens auch durch nichts bewiesen, dass diese Nerveu nicht unter gewissen Umständen auch zu motorischen werden können. — Es ist ja sehr schwierig, die Be- dingungen künstlich herzustellen, welche eine solche Umkehr in der Funktion des Vagus und des Depres- sor bedingen sollten, da die Zellen, in welchen sie en- den, sich in einer fortwährenden tonischen Erregung be- finden. — Es giebt aber auch eine zuerst von Schelske und dann von mirG) gemachte Beobachtung, welche geradezu für das Vorkommen einer solchen Umkehr in der Funktion des Vagus zu sprechen scheint. Diese Beobachtung besteht in Folgendem: Erwärmt man das ausgeschnittene Froschherz bis zu 37° C., so hören die automatischen Bewegungen des Herzens auf; die Herz- gebilde bleiben aber erregbar; wird nun in diesem Mo- 5) E. Cyon et C. Ludwig. Über die Reflexe etc. Sitzungsberichte der sächsischen Ges. der Wiss. 1866. 6) E. Cyon. Über den Einfluss der Temperatur-Veränderungen etc. Sitzungsberichte d. sächs. Ges. d. Wiss. 1866. 785 ment der Vagus gereizt, so ruft seine Reizung eine Reihe von Herzcontractionen hervor. Der Ver- dachtvon Stromesschleifen, die direkt das Herz treffen sollten, war bei meinen Versuchen sorgfältig ausge- schlossen; auch der Charakter der Herzcontractionen sprach gegen eine direkte Reizung des Herzmuskels; — bei dieser letzteren Reizung tritt nämlich eine wurm- förmige Zuckung des Herzens ein, die nicht einmal im Stande ist, den Herzinhalt heraus zu treiben. Da- gegen veranlasst Reizung des Vagus eine ganze Reihe von Gontractionen, welche oft sogar einen tetanischen Charakter besitzen. Diese leider nur vereinzelt stehende Beobachtung ist meiner Ansicht nach der einzige direkte Beweis, dass wir es bei den hemmenden Vorgängen wirklich mit Interferenzerscheinungen zu thun haben, — ein Be- weis, der um so werthvoller ist, als er ganz den Prä-* missen entspricht, welche man von meiner oben ent- wickelten Annahme zu machen berechtigt ist. Zum Schluss will ich mich nochmals gegen den Verdacht verwahren, als betrachte ich die hier ent- wickelte Hypothese von dem Wesen der hemmenden Nerven als etwas Definitives. Die vielleicht unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sowohl das experimentelle, wie das theoretische Studium von den Brechungen, Reflexionen und Inter- ferenzen, welche Wellen erleiden müssen, die von ver- schiedenen Stellen in ein so unregelmässig gestaltetes Gebilde wie eine Nervenzelle hineinschwingen, sind mir ebenso evident wie jedem Anderen. Soweit dachte ich auch nicht, den Gegenstand führen zu wollen. 786 Ich glaube aber jedenfalls, durch die Ableitung des oben mitgetheiltcn Satzes über die Ursache der hem- menden Wirkungen soviel geleistet zu haben, dass der Physiologe nicht mehr mit solcher Scheu vor diesem Noli me tangere der Nervenphysiologie zu- rückschrecken wird. — Aufgabe der Histologen ist es zu untersuchen, ob in den Lageverhältnissen der Ein- trittstellen von Nervenfasern in eine Ganglienzelle irgend welche Gesetzmässigkeit sich auffinden lässt. (Aus dem Bulletin T. XVI, pag. 97 — 117.) Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissen- schaften. Im April 1871. K. Wesselowski, beständiger Secretair. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. (Wass.-Ostr., 9 Lin., JV« 12).