(Ans Reichert’s und du Bois-Reymond’s Arcliiv u. s. \v. Jahrgang 1860.) Abänderung des Stenson’schen Versuches für Vorlesungen. / Von ,/ E. du Bois-Reymond. Der Sten son’sche Versuch,1) über die Lähmung der hinteren Extremitäten durch Unterbindung der Bauchaorta bei den Warm- blütern, ist einer von denen, die jeder Lehrer der Physiologie gern seinen Zuhörern vorführen wird. Leider ist dieser Versuch in seiner ursprünglichen Gestalt ein sehr widerwärtiger. Der Bauch des lebenden Thieres muss geöffnet, der Darm bei Seite geschoben, die Aorta unterbunden, der Bauch zugenäht werden. Ist die Lähmung eingetreten, so muss die Bauchnaht wieder aufge- trennt, der Darm von Neuem bei Seite geschoben, das Unter- band von der Aorta gelöst und der Bauch abermals zugenäht werden. Kaninchen sind nach dieser Reihe von Operationen kaum noch geeignet, die Wiederherstellung der Leistungsfähig- keit ihrer Hinterläufe erkennen zu lassen; aber sogar am Hund 1) Haller, Elementa Pbysiologiae Corporis hmnani etc. t. IV. Lausannae 1762. 4o. p. 544. 640 E. du Bois-Reymond: habe ich den Versuch von Jemand, der ihn von einem unserer geübtesten Vivisectoren hatte ausführen sehen, als einen scheuss- lichen bezeichnen hören. Stannius hat den Stenson’sehen Versuch dahin abge- ändert, dass er von einer Rückenwunde zur Seite des M. sa- crolumbalis aus einging, und, während „die Muskeln des Rückens, die M. M. quadratus lumborum und die psoae“ mit zwei stumpfen Haken kräftig zurückgezogen wurden, ohne Verletzung des Bauchfells an die Aorta zu gelangen suchte.*) Zum Zweck eigener, auf neue Ermittelungen gerichteter Versuche ist dies Verfahren unstreitig das richtige; für die Vorlesung kann man wünschen, es durch ein minder umständliches ersetzt zu sehen. Dasselbe gilt von dem Verfahren, welches Kussmaul und Tenn er in ihrer schönen Arbeit über die Zuckungen durch Verblutung beschrieben haben, um den Aortabogen am leben- den Kaninchen zu comprimiren. Selbst bei der grossen Uebung, die sich die Verfasser erworben hatten, wird die Dauer der Operation auf eine Viertel- bis auf eine halbe Stunde ange- schlagen. Abgesehen davon würde sich diese Art, den Ein- fluss des Blutlaufes auf die Leistungsfähigkeit der Muskeln darzuthun, für die Vorlesung deshalb wenig eignen, weil dabei zugleich dem Rückenmark ein zu grosser Theil seines Blutes entzogen wird. Von B rown-Sequard’s Versuchsweise endlich, Kanin- chen oder Meerschweinchen bis auf die Bauchaorta und untere Hohlvene mitten durchzuschneiden,') kann natürlich hier nicht die Rede sein. Unter diesen Umständen wild es vielleicht nicht unwillkommen erscheinen, wenn ich eine Art angebe, wie der Stenson’sehe Versuch am Kaninchen auf das leichteste, sicherste und reinlichste, mehreremal nach einander am näm- lichen Thier, ja ohne dauernden Nachtheil für dasselbe, an- gestellt werden kann. Mein Verfahren, welches bereits sechsmal mit bestem Erfolg 1) Vierordt, Archiv für physiol. Heilkunde. Bd. XI. 1852. S. 4. 2) Moleschott’s Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere. Bd. III. 1857. S. 14. 60. 3) Coroptes rendus etc. 9 Juin 1851. t.. XXXII. p. 855. Abänderung des Stenson’sehen Versuches für Vorlesungen. 641 in’s Werk gesetzt wurde, besteht darin, dass ich die Lendenwirbel- säule des sonst unversehrt bleibenden Thieres mit einer krum- men Nadel umsteche und an dieser ein Band durch die Bauch- höhle ziehe, das nur über den Dornfortsätzen zugeschnürt zu werden braucht, um den Kreislauf in den Hinterläufen zu hemmen. Meine Nadel, welche indess nur für mittelgrosse Thiere passt, stellt einen Halbkreis von 60 Mm. Durchmesser dar. Sie ist trokartförmig zugeschärft und liegt nach Art eines Tro- karts in einer Scheide von entsprechender Krümmung und von 2,5 Mm. Durchmesser. Die Schnur ist seidene Plattschnur und wird vor dem Versuch eingeölt. Das Kaninchen braucht nicht befestigt zu werden; es genügt, dass ein Gehülfe das wie ge- wöhnlich kauernde Thier mit der einen Hand in der Schulter-, mit der anderen in der Kreuzgegend gegen den Tisch drücke, so dass das Hintertheil nach der rechten, der Kopf nach der linken Hand des Experimentirenden gekehrt sei. Ueber dem rechten M. quadratus lumborum wird ein kleiner Hautschnitt gemacht, und die eingefädelte Nadel mit entblösster Spitze etwas unterhalb des Dornfortsatzes des vierten Lendenwirbels langsam genug eingestossen, um den Darmschlingen Zeit zu lassen auszuweichen. Ist die Nadel bis über die vordere Mün- dung der Scheide in die Bauchhöhle gedrungen, was man leicht an dem Aufhören des Widerstandes merkt, den diese Mündung beim Vordringen durch die Gewebe erfuhr, so wird die Spitze in die Scheide zurückgezogen, und man sucht nunmehr mit der verhältnissmässig stumpfen und ungefährlichen Mündung der Scheide durch die Radix mesenterii, deren Durchbrechen man an grösseren Thieren deutlich spürt, den Weg um die Wirbel- säule. Sobald man die Mündung der Scheide unter dem lin- ken M. quadratus lumborum an der Stelle fühlt, welche der Eintrittsstelle auf der rechten Seite entspricht, stösst man die Nadelspitze wieder vor, dringt damit durch ßauchwand und Haut, und zieht langsam die Schnur nach, die man in der Bauchhöhle doppelt liegen lässt. Die Aorta und die Vena cava inferior verlaufen beim Kanin- chen in der Bauchhöhle innerhalb einer Furche, welche die an- einanderstossenden inneren Ränder der beiden M.M. psoae bil- 642 E. du Bois-Reymond: den. Wird daher die Schnur in der bezeichneten Lage kräftig angespannt und werden deren Enden über den Dornfortsätzen fest zusammengebunden, so erfahren die Gefässe in jener Furche einen Druck, der dem Kreislauf ein Ende macht. In Folge davon büsst nach kürzerer oder längerer Zeit das Ka- ninchen die Herrschaft über seine Hinterläufe ein. Löst man die Schleife, schneidet die Schnürenden auf der rechten Seite dicht über der Muskelwunde ab, und zieht den Rest der Schnur aus, so kehrt sofort die Bewegung zurück. Man kann aber auch nach Lösung der Schleife die Schnur liegen lassen und nur deren Abspannung dadurch zu Hülfe kommen, dass man die Schnur etwas hin- und herzieht und so in den Wunden lockert; auch dabei stellt sich der Kreislauf rasch wieder her, und mau hat den Vortheil, den Versuch wiederholen zu können. Bei erneutem Zuschnüren sieht man die Leistungsfähigkeit aber- mals schwinden. Die Nieren zu verletzen, läuft man keine Gefahr, wenn man sich in der bezeichneten Höhe hält. Geht man noch tie- fer, so kann man die Blase treffen, wenn sie sehr voll ist. Die Ureteren, von denen der rechte in derselben Furche wie die Gefässe, der linke auf dem entsprechenden M. psoas verläuft, werden natürlich mit umschnürt, doch scheint es nicht, dass dies für das Thier von nachtheiligen Folgen sei. Die Kanin- chen überleben nicht bloss die Operation, sondern sie werden auch kaum krank danach. Die nach etwa acht Tagen ausge- führte Obduction zeigte meist nur unbedeutende Adhaesionen als Ueberbleibsel einer örtlichen Peritonitis. In einem Falle fand ich den rechten M. psoas abscedirt, allein es waren, wegen Unruhe des Thieres, mehrere Fehlstiche gemacht worden. In einem anderen Falle trat, während die Schnur zugezo- gen war, Pleurotonus der linken Seite ein. Der Grund dieses Zufalles, der ohne weitere Folgen vorüberging, blieb unbekannt. Von dem ursprünglichen Stenson’schen Versuche unter- scheidet sich der beschriebene, abgesehen von dem operativen Verfahren, auch noch dadurch, dass dort nur die Arterie, hier Ar- terie und Vene unterbunden werden. Segalas d’Etchepare,1) 1) Magendie, Journal de Physiologie experimentale et patholo- gique. t. IV. 1824. p. 288. Abänderung des Stenson’schen Versuches für Vorlesungen. 643 James Philipps Kay1) und Longet2) haben bereits den Stenson’schen Versuch mit dieser Abänderung wieder- holt, und sind, die beiden ersteren bestimmt, der letztere, indem er sich die genauere Untersuchung noch vorhehielt, zu dem Ergebniss gelangt, dass bei dem gleichzeitigen Unterbin- den der Vene die Leistungsfähigkeit der Muskeln länger als bei dem Unterbinden der Arterie allein erhalten bleibe. Dies Ergebniss würde sich leicht dadurch erklären, dass in dem Fall, wo nur die Arterie unterbunden ist, die Muskeln theils durch die elastische Zusammenziehung der Arterie, theils durch den Druck, den sie selber ausüben, sehr bald ganz blutleer werden, da- gegen bei gleichzeitig unterbundener Vene ihnen ein Vorrath arte- riellen Blutes bleibt, von dem sie noch ein Weilchen zehren können. Ich habe bei der gleichzeitigen Unterbindung von Arterie und Vene zwar meist erst nach einiger Zeit, fünf Minuten bis zu einer Viertelstunde, die vollständige Lähmung der Beine ein- treten sehen, allein in einem Falle auch im Laufe weniger Se- cunden. Ich muss es zweifelhaft lassen, ob das spätere Ein- treten der Lähmung in jenen Fällen davon herrührte, dass mit der Arterie zugleich die Vene unterbunden war, oder daher, dass die Gefässe, zwischen den Polstern der M.M. psoae, den Druck der Schnur nicht hinreichend erfuhren. Die erstere Möglichkeit wird durch den Fall, wo die Lähmung augen- blicklich eintrat, insofern nicht abgeschnitten, als es denkbar ist, dass in diesem Fall in Folge irgend eines Umstandes nur die Aorta einem hinlänglichen Druck ausgesetzt war.3) 1) Edinburgh Medical and Surgical Journal. 1828. vol. XXIX. p. 54. 55. 57. 2) Recherches experimentales sur les Conditions necessaires ä l’Entretien et ä la Manifestation de l’Irritabilite musculaire avec Ap- plications ä la Pathologie. A Paris 1841. p. 29; — Traite de Phy- siologie. 2me Ed. Paris 1857. t. I. 3me Partie, p. 36. 3) Ich finde nachträglich, dass schon der alte Joh. Cour. Brun- ner einmal in der Absicht, den Ductus thoracicus zu unterbinden, die Brustwirbelsäule eines Hundes zwischen der 9. und 10. Rippe mit einer Nadel umstochen , und beim Zuschnüren des Bandes über dem Rück- grat denselben Erfolg, wie bei Unterbindung der Aorta, beobachtet hat. Experimenta nova circa Pancreas etc. Lugd. Bat. 1722. p. 186.