Beiträge zur Kenntniss der Kefractions- und Accommodationsancrfnalien. Von F. C. Donlders. I. Begriff und Eintheilung der Refractionsanomalien. Um einen Gegenstand deutlich und scharf ausgeprägt zu sehen, muss folgenden zwei Bedingungen genügt werden. Erstens muss ein reines umgekehrtes Bild des Gegenstandes auf der vorderen Fläche*) der Stäb- chenschicht der Netzhaut gebildet werden. Zweitens muss die hier erregte örtliche Veränderung auf die Fasern des Sehnerven übertragen, dem Gehirne mit- getheilt und wiederum in umgekehrter Richtung nach aussen projicirt werden. Durch diese zweifache Umkehrung entspricht das projicirte Bild dem Gegenstände, so dass wir behaup- *) Die Accommodationslinie von Czermack, deren Grund unten angegeben werden wird, hat man unrichtigerweise mit der Stäbchen- länge in Verband gebracht, indem man dabei voraussetzte, dass die Accoinmodation ganz fehlerfrei sei, wenn nur der Vereinigungspunkt der Strahlen in die Stäbchenschicht, an der vorderen oder der hinteren Fläche, falle. Man hat aber dabei vergessen, dass die Strahlen, welche einmal in ein Stäbchen eingetreten sind, dasselbe wegen der totalen Reflexion an den Wänden nicht wieder verlassen können, und dass es mithin ganz bestimmt beachtet werden muss, welche Strahlen in die vordere Fläche der Stäbchen eintreten. 63 ten den Gegenstand zu sehen, wiewohl eigentlich nur das projicirte Netzhautbild vor unseren Augen steht. Jede Gesichtsstörung ist davon abhängig, dass ent- weder einer dieser Bedingungen, oder beiden zu gleicher Zeit nicht genügt wird. Wenn die Projection nach aussen gestört ist, sei es durch Anomalien in der Re- tina, oder in dem Nervus opticus, oder in dem Gehirne, so gehört die Affection zum Gebiete der Amblyopie oder Amaurosis. Ensteht dagegen kein Bild, oder ist das Bild durch Diffusion im Innern des Auges umne- belt, so sind Trübungen in den Augenmedien, welche das Licht zu durchlaufen bat, vorhanden. Wenn end- lich das Bild von Gegenständen, welche sich in den gewöhnlichen Entfernungen des deutlichen Sehens vom Auge befinden, nicht auf der Stäbchenschicht gebildet wird, oder wenn gar wegen Abweichung in der Krüm- mung der Oberflächen kein deutliches Bild zu Stande kommt, so müssen Refractions- oder Accommodations- fehler vorhanden sein. Die Störungen beim Sehen (mit einem Auge) können mithin in drei Hauptklassen einge- theilt werden: Amblyopien, Trübungen, Anomalien in der Refraction oder Accommodation. Zur Kenntniss der Störungen in der Refraction oder Accommodation will ich versuchen, hier einen Beitrag zu liefern. Ich bezweck« damit zuerst die Begriffe die- ser Anomalien klar und richtig zu bestimmen. Man spricht öfter von der Entfernung des deut- lichen Sehens und hat sich auch w'ohl bemüht, sie zu bestimmen. Das normale Auge hat aber mehr als eine Entfernung des deutlichen Sehens: es hat nämlich einen ihm am nächsten und einen anderen am entfern- testen gelegenen Punkt, dem es sich accommodiren kann; alle dazwischen gelegenen Punkte können mithin, jeder für sich, Entfernungen des deutlichen Sehens werden. Kennt man den nächsten und entferntesten Punkt, so 64 kann man nach der von mir früher angegebenen Me- thode die Accornmodationsbreite*) bestimmen. Wenn nämlich r = der Entfernung des äussersten Punktes, p — der des Nächsten, so wird die Accornmodationsbreite durch die Formel A = — — ~ gegeben. Es gehört zu einem idealen Auge, dass der meist entfernte Punkt in unendlicher Entfernung gelegen sei, das heisst, dass das Auge bei der Accommodation für seinen fernsten Punkt parallele Strahlen gerade auf der Stäbchenschicht der Netzhaut zur Vereinigung bringe. Diesem Ideale entsprechen relativ wenige Augen. Die parallelen Strahlen kommen bei der Accommodation für den fernsten Punkt sehr oft vor der Retina zur Vereinigung, sodass nur von Gegenständen in endlicher Entfernung, deren Strahlen das Auge in divergirender Richtung treffen, deutliche Bilder auf der Retina gebil- det werden. Parallele Strahlen finden auch nicht sel- ten, bei vollkommener Entspannung des Accommodations- apparates, hinter der Stäbchenschicht ihren Vereinigungs- punkt, so dass die Strahlen convergirend auf das Auge fallen müssen, wenn anders ein deutliches Bild auf der Retina gebidet werden soll. Der erste Zustand wird Myopie genannt, für den zweiten glaube ich den Terminus Hypermetropie vorschlagen zu müssen. In Bezug auf den fernsten Punkt des deut- lichen Sehens zerfallen mithin die Augen in drei Klassen: 1) in normale oder emmetropische für parallele Strahlen, 2) in myopische (brachymetro- pische) für divergirende Strahlen, 3) in hypermetro- pische für convergirende Strahlen eingerichtet. Die Grenzen zwischen diesen drei Klassen sind bei dieser Unterscheidung scharf gezogen. Sie sind unmittelbar *) Archiv für Ophthalmologie. Bd. IV. S. 301. 65 gegeben durch einen Kehrpunkt, in der Richtung der Strahlen, für welche das Auge accomodiren kann. Sie beziehen sich auf das in Ruhe und Entspannung befind- liche Auge; d. h. ausschliesslich auf den anatomischen Bau des Auges. Sie werden nur durch die Lage der Retina in Beziehung zu der Form und der lichtbrechen- den Kraft des dioptrischen Systems bestimmt. Eine Unterscheidung der Augen nach dem näch- sten Punkte des deutlichen Sehens entbehrt diese Vortheile ganz und gar. Alle Grenzen müssen dabei willkürlich gezogen werden; weder in dem Auge selbst, noch in der Richtung der Strahlen kann man ein lo- gisches Eintheilungsprincip finden, und dazu kommt noch, dass neben den oben erwähnten anatomischen Factoren, noch ein dritter physiologischer zu Hülfe ge- zogen werden muss, und zwar die veränderliche Kraft des Accommodationsvermögens. Das Bedürfniss nach einer Unterscheidung, die auf der Entfernung des nächsten Punktes des deutlichen Sehens von dem Auge beruht, wird dann auch weder von der Wissenschaft noch von der Praxis gefühlt. Sobald der fernste Punkt gegeben ist, braucht bloss der veränderliche Factor der Accommodationsbreite hinzuge- fügt zu werden, um über das ganze Accomodations- gebiet urtheilen zu können. Man hat im Allgemeinen die Nothwendigkeit, um den fernsten Punkt als Haupteintheilungsprincip für die Accommodationsfehler zu benutzen, nicht eingesehen. Und dies rührt hauptsächlich daher, dass man weniger auf die Accommodationsgrenzen Acht gab, als auf eine sogenannte Entfernung des deutlichen Sehens, welche, wie wir schon bemerkten, keine bestimmte Grösse vorstellt, weil sie willkührlich auf jeden Punkt der Accommodationsbreite zielen kann. So kam man inzwischen dazu Myopie und Presbyopie einander ge- Archiv für Ophthalmologie. VI. 1. 66 radezu gegenüberzustellen und sie, in Beziehung zum normalen Auge, als Abweichungen zu betrachten, welche dem Wesen nach ganz übereinstimmend, der Richtung nach aber nur entgegengesetzt sein sollten. Scheinbar geschah dies mit dem vollsten Rechte. Bei der Myopie doch können nur in der Nahe gelegene, bei der Presbyopie (nach der gangbaren Bedeutung des Terminus) nur entfernte Gegenstände deutlich gesehen werden. Bei der Myopie war die Entfernung des deut- lichen Sehens dem Auge zu nahe gerückt, — bei der Presbyopie dagegen zu weit davon entfernt. Da man keine andere Abweichungen kannte, so musste man sich genöthigt sehen, sie einander gegenüberzustellen. Diese Gegenüberstellung erscheint aber bei einge- hender Betrachtung unlogisch. Myopie und Presbyopie gehören sowohl aus anatomischen, als auch aus phy- siologischen Rücksichten zu sehr verschiedenen Kate- gorien. Die Myopie beruht auf einem abnormen Baue des Auges; dagegen ist eine dergleiche wesentliche Ab- normität bei der Presbyopie (eine nothwendige Folge des höher werdenden Alters in jedem emmetropischen Auge) nicht vorhanden. Das Accommodationsvermögen hat bei der Myopie die normale Breite; Abnahme dieser Breite ist gerade die Ursache für die Presbyopie. Myopie endlich beruht auf einer abnormen Lage des fernsten Punktes, der deutlich gesehen werden kann, Presbyopie dagegen auf einer solchen des nächsten Punktes. Wie wenig Myopie der Presbyopie entgegengesetzt werden kann, geht auch daraus hervor, dass sowohl Myopie als auch Presbyopie in demselben Auge Vorkommen kann, sobald z. B. die Breite des deutlichen Sehens nur in einer Entfernung von 14 bis 20 Zoll gelegen ist; dabei doch ist der fernste Punkt dem Auge zu nahe, der nächste dem Auge zu fern gelegen. Die Ungenauigkeit der Begriffe schien noch ver- 67 mehrt werden zu müssen, als man den Zustand kennen lernte, welchen wir mit den Namen Hypermetropie be- legt haben und den man vor uns durch den Terminus Hyperpresbyopie unterschied, als ob ein höherer Grad von Presbyopie ihm zu Grunde läge. Wenn man be- denkt, dass das Auge oft „hyperpresbyopisch” ist, ohne nur im mindesten an Presbyopie zu leiden und dass das Accommodationsvermögen bei Hyperpresbyopie in seiner vollen Kraft vorhanden sein kann, während es bei Pres- byopie stets eine Abnahme erlitten hat, so wird man zu dem Schluss geführt dass „Hyperpresbyopie” (Hy- permetropie) und Presbyopie im Grunde nichts mit ein- ander gemein haben. Ich komme daher auf die oben angegebene Haupt- unterscheidung der Refractionsanomalien in Myopie und Hypermetropie zurück. Ihre gegenseitigen Unterschiede und Gegensätze lassen sich in wenigen Worten zusam- menfassen: In dem Ruhezustände liegt der Brennpunkt des dioptrisehen Systemes bei Myopie vor, — bei Hy- permetropie hinter der Stäbchenschicht der Retina, während dieser Brennpunkt im emmetropischen Auge gerade in der Retina gelegen ist. II. Myopie. Myopie kommt in sehr verschiedenem Grade der Entwickelung vor, der, wie ich früher angegeben habe, 1 leicht durch die Formel — unterschieden werden kann. r Leichte Grade von Myopie sind viel häufiger, als man es gewöhnlich vermuthet. Viele Individuen, welche vor- geben, sehr deutlich in grosser Entfernung zu sehen, sind gewöhnlich erstaunt, dass Glaser von — Veo und — ’Ao und mitunter noch mehr negative Brillengläser 68 entfernte Gegenstände viel deutlicher machen. Sie sind Myopen, aber in geringem Grade. Mit Unrecht hat man die Myopen geringeren Gra- des in einer besonderen Klasse von den anderen ge- trennt. Bei dem Begriffe, den man sich von der Myo- pie construirt hatte, war man mit denjenigen Fällen in Verlegenheit gerathen, in welchen in einer Entfernung von 2, 3 und 4 Fuss deutlich gesehen wurde, und den- noch Buchstaben von der Grösse eines Zolles in einer Entfernung von 15—20 Fuss nicht mehr leicht unter- schieden werden konnten. Man sah nicht ein, dass man dabei mit geringen Graden von Myopie zu thun hatte, mit Graden von V24, wobei der Fern- punkt auf 24", 36", 48" von dem Auge entfernt lag. In der Entfernung von 15 Fuss sind dann schon die Zerstreuungskreise bedeutend, wenn nämlich die Pu- pille ziemlieh weit ist. Die Verwirrung in Folge einer unrichtigen Auffas- sung dieser Fälle ist unglaublich. Dr. Kerst fand bei manchen jungen Aspiranten für die Stelle als Eleve an der Schule für Militärärzte, dass sie in einer Entfernung von 15—20 Zoll gewöhnliche Druckbogen leicht und fertig lasen, dagegen Buchstaben von 3—4 Zoll Grösse in einer Entfernung von 12—20 Fuss nicht mehr unterscheiden konnten. Er schrieb darüber an Cunier und fragte am Ende dieses Schreibens, ob hier nicht eine Art Myopie vorläge, obgleich er in den ge- bräuchlichen Handbüchern der Ophthalmologie, unter dem Artikel Myopie, davon nichts vermeldet fand. Cunier theilte Sichel*) dieses Schreiben mit, und Letzterer beantwortete die Frage des Herrn Kerst ganz richtig bejahend. Aus dem dabei geführten breiten Raisonne- ment geht aber hervor, dass es Sichel nicht klar ge- *) Leqons cliniques sur les lunettes etc. Bruxelles. 1848 p. 99. 69 worden war, dass man dabei ganz einfach mit einem solchen Grade von Myopie zu thun hatte, bei dem der fernste Punkt des deutlichen Sehens nicht ferner als 15 oder 20 Zoll gelegen war. Einige Jahre später schrieb Fronmüller hierüber, als über „eine Varietät der Kurzsichtigkeit”, die er „Myopie in distans” nennt. Sichel und Kerst haben, wie er sagt, zuerst die Aufmerksamkeit hierauf gelenkt. Trotzdem aber beschreibt Fronmüller*), als Beispiel für seine Myopie in distans, einen Fall von Hyperme- tropie, was daraus hervorgeht, dass mit einem convexen Glase deutlich und ohne Anstrengnng in die Ferne ge- sehen wurde, während mit einem concaven Glase das Sehen in jeder Entfernung undeutlich wurde. Fron- müller hat mithin einen mässigen Grad von Hyper- metropie, der das Lesen gewöhnlicher Druckbogen in einer Entfernung von 10" mit Leichtigkeit zuiiess (Fälle, die keineswegs selten Vorkommen), mit dem geringen Grade von Myopie verwechselt, auf den Kerst aufmerk- sam gemacht hatte und dafür einen neuen Terminus, Myopie in distans, eingeführt. Demungeachtet sehen wir nun diesen Terminus auch von Kerst für geringe Grade von Myopie in Gebrauch gezogen. v. Graefe**) endlich, der über die Entstehung dieses Terminus das Nöthige nicht in Erfahrung bringen konnte, macht einen rationellen Gebrauch von demsel- ben, um diejenigen Fälle zu charakterisiren, in welchen die Unterscheidung von fern gelegenen Gegenständen in Beziehung zu dem Grade der Myopie sehr fehlerhaft ist. Er untersucht und analysirt einen darauf bezüg- lichen Fall mit grosser Genauigkeit. Daraus geht her- vor, dass dieser Zustand von einer unwillkürlichen Wirkung der Accommodationsmuskeln abhängen kann, *) Beobachtungen auf dem Gebiete der Augenheilkunde. Fürth, 1850 S. 54. **) Archiv f. Ophthalmologie. Bd. II. Abth. I. S. 158. 70 die sich krampfhaft zu jedem Versuche fügt, weiter zu sehen, als den natürlich fernsten Punkt. Solche Fälle kommen aber gewiss nur höchst sel- ten vor. Unter mehr als Tausend Myopen habe ich keinen solchen zu beobachten Gelegenheit gehabt. Die zu grosse Undeutlichkeit von entfernten Gegenständen in Beziehung zum Grade der Myopie liess sich stets durch die mehr als gewöhnlich grosse Pupille erklären. Sie verhindert nicht, dass in Entfernungen, für welche das Auge accommodirt ist, vollkommen deutlich gesehen wird, sondern macht die Wahrnehmung ausserhalb der Ac- commodationsgrenzen sehr unvollkommen, weil die Grösse der Zerstreuungskreise mit der Mittellinie der Pupille wächst. Dies ist auch eine der Ursachen, warum Man- cher glaubt, dass seine Myopie mit dem Zunehmen der Jahre abgenommen hat, auch wenn es wirklich nicht stattgefunden; die Pupille ist kleiner geworden und schon darum sehen sie besser in der Entfernung. Wenn man die sogenannten Myopen in distans durch eine Oeflfnung von 5 Millimetern hindurchsehen lässt, so ist das Missverhältniss aufgehoben. Man muss sich daher in Acht nehmen, jedes Missverhältniss zwischen dem Grade von Myopie und der Beobachtung in der Entfer- nung durch Krampf der Accommodations - Muskeln zu erklären. Darum aber kann auch der Terminus, „Myopie in distans,” welcher schon so viel Verwirrung verursacht hat, nach meinem Dafürhalten, ganz gut entbehrt werden. Weder die geringeren Grade der Myopie, welche ebensogut wie die höheren durch — bestimmt werden können, noch die Hypermetropie, welche geradezu ein Gegenfüssler der Myopie ist, verdienen so benannt zu werden, und die seltsame, durch v. Graefe beschriebene Krankheitsform mag als Krampf der 71 Accomodationsmuskeln beim Entspannungsversuche an- gedeutet werden. Es liegt durchaus nicht in meinem Plane hier eine Geschichte der Myopie zu geben. Vielleicht werde ich sie später an einer anderen Stelle behandeln. Nur einen einzigen Punkt, der auf das Sehen von Myopen sich bezieht, will ich hier erwähnen, weil ich glaube, dass er bisher übergesehen worden ist: dass nämlich die Myopen die Bilder ihrer Retina kleiner sehen als nor- male Augen. Die Retina ist im myopischen Auge aus- gedehnt worden. Jeder Punkt der Retina hat inzwischen den Punkt seiner Projection im Gesichtsfelde unverän- dert beibehalten- Wenn man sich nun die psychisch projicirten Punkte des Gesichtsfeldes mit den überein- stimmenden Punkten der Retina verbunden denkt, so hat man einen Kreuzpunkt der ideellen Projectionslinien und dieser Kreuzpunkt ist durch die Zerrung der Retina bei Myopie nach vorne gerückt. Man kann behaupten, dass der Kreuzungspunkt der Projectionslinien im nor- malen Auge mit dem der Richtungslinien zusammenfällt, wegen der ihm eigenen Harmonie zwischen dem Ge- sichtswinkel, unter dem man sich einen Gegenstand vorstellt und der erforderten Bewegung, um die Ge- sichtsaxe diesen Winkel durchlaufen zu lassen. Im myo- pischen Auge findet dies nicht mehr statt. Wenn die Ent- fernung von zwei Punkten der Netzhaut von einander ver- doppelt ist, so muss der Kreuzungspunkt der Projections- linien in doppelte Entfernung von der Retina gebracht sein: man stellt sich für ein gegebenes Netzhautbild einen Gegenstand unter kleinerem Winkel vor, und muss nichtsdestoweniger eine Bewegung machen, welche der Grösse des Netzhautbildes entspricht, um die Ge- sichtsaxe hintereinander auf die entgegengesetzten Grenzen des Gegenstandes zu bringen. Ich werde ver- suchen, das Angeführte noch näher zu beleuchten. Zwei 72 Mittel stehen za unseren Diensten, am den Winkel zu schätzen, unter dem wir einen Gegenstand sehen. Wir wenden sie gewöhnlich gleichzeitig an. Erstens schätzen wir ihn unmittelbar, wenn wir einen gewissen Punkt eines Gegenstandes fixiren, den wir übrigens indirect sehen; das zweite Mittel ist gelegen in der welche gefordert wird, um zwei entgegengesetzte Punkte hintereinander direct zu sehen. Der ursprüngliche Zu- sammenhang zwischen diesen Mitteln besteht nicht mehr bei dem Myopen; bei unmittelbarer Schätzung sieht er (nach seinem ursprünglichen Maasstabe) den Gegenstand unter einem kleineren Winkel als bei der Beurtheilung, welche sich aus der erforderten Bewegung ergiebt*). Wir versetzen uns in denselben Fall, wenn wir in verkehrter Richtung durch ein Opernglas schauen. Die Gegenstände stellen sich unter einem kleineren Win- kel dar, und eine unverhältnissmässig grosse Drehung des Kopfes wird erfordert, um die Gesichtslinie von dem einen Punkte zu dem andern zu führen: es ist, als ob die Gegenstände der Bewegung folgten. Die Drehung des Kopfes bei diesem Versuche ent- spricht der Bewegung der Augen bei der hochgradi- gen Myopie; Myopen aber bemerken dieses Missver- hältnis nicht, weil sie bei der allmähligen Entwickelung der Myopie ihren Maassstab bei unmittelbarer Schätzung nach und nach modificirt haben. Auch die erforderte Muskelwirkung kann durch Ortswechsel des Drehpunk- tes eine Modification erlitten haben. Trotzdem aber scheint das Mitgetheilte nicht ganz bedeutungslos zu sein, indem es Rechenschaft giebt von einem Verluste in der Schärfe des Sehvermögens**), das bei den Myopen im Allgemeinen vorkommt. *) Die scheinbaren Bewegungen der Objecte bei Contraction von halbparalysirten Augenmuskeln haben denselben Grund, *) Ich habe die Gewohnheit, den Verlust an Schärfe des Sehver- 73 III. Hypermetropie, Die Hypermetropie wurde bisher sehr wenig stu- dirt. Die älteren Ophthalmologen haben sie entweder gar nicht gekannt, oder verkannt. Dieses Misskennen ist jedenfalls nicht ohne schädliche Folgen geblieben. Positive Gläser wurden nur allzu unbedingt für das Sehen in der Entfernung abgerathen, und für das Sehen in der Nähe wurden die schwächsten Gläser, mit denen einigermaassen, d. i. mit grosser Anstrengung wahrge- nommen werden konnte, verordnet. Die Unwissenheit über diese bedeutende Abweichung war allgemein. Sogar von Ruete, der so sehr bemüht war, die Physik und die Physiologie der Ophthal- mologie dienstbar zu machen, war ihre Existenz nicht bemerkt werden, so dass sie denn auch in seinem Lehr- buch der Ophthalmologie vom Jahre 1845, keine Er- wähnung findet. Erst in der zweiten Auflage vom Jahre 1853 finden wir sie angeführt, aber wie? „Die Ueber- sichtigkeit,” so lesen wir, „ist der Zustand, bei dem wegen einer eigentümlichen, noch nicht hinreichend erforschten Construction der brechenden Mittel des Auges weder nahe, noch ferne Gegenstände deutlich gesehen werden. Das Auge scheint dabei an einem gänzlichen Mangel der Accommodationskraft und an einer sehr geringen Brechungskraft zu leiden. Dieser Gesichtsfehler ist in der Regel angeboren, oder er ent- wickelt sich doch sehr früh in der Jugend.” Die Be- schreibung beschränkt sich ganz und gar auf dieses Citat; sie ist aber überdies in jeder Periode ungenau; denn bei mässigem Grade w'erden entfernt gelegene mögens in Zahlen auszudrücken. Unabhängig von mir hat v. Graefe dasselbe gethan und angefangen es zu verwerthen. 74 Gegenstände und sogar nahe gelegene noch deutlich gesehen; die Accommodationskraft fehlt nie ganz und gar und ist nicht selten von normaler Breite, während endlich dieser Zustand sich wohl nie nach der Geburt entwickelt. V. Graefe*) hat die höheren Grade der Hyperme- tropie mit dem ihm eigenen Talente beschrieben und analysirt. Auch Stellwag von Carion**) hat unge- fähr zu derselben Zeit eine klare Vorstellung von der- selben gehabt, wiewohl er diesen Zustand als einen höheren Grad von Presbyopie betrachtet; er hat sogar schon verschiedene Categorien, als facultative, relative und absolute Hyperpresbyopie unterschieden, welche theilweise den Graden von Hypermetropie entsprechen, welche ich angenommen habe. Es blieb aber fast ganz unbeachtet, dass dieser Zustand in geringem Grade sehr verbreitet vorkommt und dass er als solcher einer Krankheit zu Grunde liegt, welche unter dem Namen Hebetudo visus, Asthenopie, Kopiopie, Ophthalmokopie, Lassitude oculaire, Amblyopie presbytique, Debilitas vi- sus, Impaired vision, Muscular amaurosis, Weaksigh- tedness u. s. w. die Ophthalmologen so sehr rege ge- halten hat. Schon oben aber haben wir die Definition der Hy- permetropie gegeben. Sie ist vorhanden, sobald das Auge über das normale brauchbare Maass hinaus sieht, sobald es für convergente Strahlen accommodiren kamq mit anderen Worten, sobald der Brennpunkt des dio- ptrischen Systemes hinter der Retina liegt. Die Strah- len gehen stets divergirend von den Naturgegenständen *) Archiv für Ophthalmologie. Bd. II. H. I. S. 179. **) Die Ophthalmologie vom wissenschaftlichen Standpunkte aus bearbeitet. Bd. II. S. 371. S. auch eine Abhandlung in den Sitzungs- berichten der k. k. Akad. der Wissenscb. zu Wien. 1855. Bd. XVI. S. 187. 75 aus, oder höchstens parallel, nämlich von Gegenständen in unendlicher Entfernung. Das Auge hat mithin kein Bedürfniss, für convergirende Strahlen zu accmomo- diren. Es entspricht allen Forderungen, wenn es ziem- lich divergirende Strahlen auf der Retina zur Vereini- gung bringen und ausserdem sich entspannen kann, um für parallele Strahlen zu accomodiren. Vermag es weiter zu gehen, so tritt es über das Maass hinaus. Es besitzt etwas Unbrauchbares und hat dabei, wie wir weiter unten sehen werden, viel an Brauchbarkeit ver- loren. Der Zustand wurde, ehe er hinreichend gut un- tersucht war, Hyperpresbyopie geheissen. Sehr bald wurde die Unrichtigkeit dieser Benennung erkannt und während das Wort Ueber sichtigkeit schon gebräuch- lich worden war, wurde ein neues, nämlich Hyperopie für Hyperpresbyopie vorgeschlagen. Dieser Terminus hat aber ebenso wenig Sinn, wie der näm- lich Uebersic.htigkeit, und ist noch nicht so allgemein adoptirt, dass man sich zurückgehalten fühlen sollte, einen Versuch zu wagen, ihn durch einen besseren und richtigeren zu ersetzen. Der Terminus Hyper- metro pie geht als von selbst aus dem oben Gesag- ten hervor. Ich hoffe, dass er sich Beifall erwerben wird. Der Grad der Hypermetropie lässt sich leicht aus- drücken. Er ist nämlich gleich der Grösse, um welche das Auge in entspanntem Zustande über das gewöhn- liche Maas hinausgeht; und diese wird leicht gefunden *) Nur für den Augenarzt hat die Hypermetropie etwas Brauch- bares. Die von einem Punkte der Retina eines Myopen ausgehenden Strahlen haben nämlich, sobald sie das Auge verlassen haben, eine eon- vergirende Richtung; der Hypermetrop hat daher das Vorrecht, den Fundus oculi von Myopen ohne negatives Glas im geradestehenden Bilde untersuchen zu können. Dieses Vorrecht compensirt aber nicht die Unannehmlichkeit, beim gewöhnlichen Sehen fast immer eine Brille oder Loupe gebrauchen zu müssen. 76 indem man nämlich das stärkste positive Glas, womit unendlich entfernte Gegenstände noch deutlich gesehen werden, aufsucht. Wenn Jemand dies mit Gläsern von %o, Vio, Vs erreichen kann, so ist seine Hypermetropie == Vao, Vio oder Vs, oder eigentlich Vis, V9, ’A, wenn nämlich das Glas, welches man gebraucht, einen Zoll von dem Knotenpunkte des Auges entfernt blieb. Bei den Untersuchungen, welche ich mit Dr. Mac- Gillavry angestellt habe, hatten wir oft grosse Mühe, den Grad der Hypermetropie mit Genauigkeit zu be- stimmen. Bei der Mittheilung wurde schon erwähnt, dass dieselben Individuen anfangs z. B. mit Gläsern von V12 am schärfsten in der Entfernung sahen, darauf mit Gläsern von l/io und endlich Gläsern von Vs den Vorzug gaben. Es wurde mir bald klar, dass diese Leute, stets gezwungen, auch wenn sie in die Ferne sehen wollten, ihr Accommodationsvermögen anzustrengen, damit fort- fahren, wenn das Bedürfniss dazu nicht mehr vorhan- den war, wenn nämlich Gläser vor ihre Augen gehal- ten wurden. Darum wmrde der Grad der Hypermetro- pie aus den stärksten Gläsern, welche sie schliesslich ge- brauchen konnten, hergeleitet. Dabei wurde vorausge- setzt, dass der Accommodationsapparat bei den stärksten Gläsern, welche ertragen wurden,- wohl ganz entspannt sein würde. Diese Voraussetzung war aber, wie ich später erkannte, irrthümlich. Der Grad, der Hyperme- tropie auf diese Weise bestimmt, fällt immer zu niedrig aus. Man kann sich davon überzeugen, wenn man die Untersuchung wiederholt, nachdem man das Accommodationsvermögen durch Eintröpfeln eines My- driaticum paralysirt hat. Ueber den Einfluss der Mydriatica auf das Accom- modationsvermögen sind sehr viele Untersuchungen mitgetheilt worden. Sie haben gelehrt, dass das Accom- 77 modationsvermögen durch dieselben aufgehoben wird. Mac-Gillavry glaubte zu finden, dass bei Verände- rung der Richtung der Sehaxen noch eine geringe Accommodation vorhanden war. Ich will dies nicht ge- radezu bestreiten, glaube aber, dass genauere Versuche erforderlich sind, um einen so wichtigen Punkt unwi- derlegbar darzuthun. Wenn das Accomodationsvermö- gen verloren gegangen ist, so ist nur ein Punkt des deutlichen Sehens übrig geblieben. Wo befindet sich aber nun dieser Punkt? Man überzeugte sich leicht da- von, dass er so weit von dem Auge entfernt liegt, als der ursprünglich fernste Punkt. Ich kann aber hinzu- fügen, dass er noch etwas weiter entfernt liegt. Es kommt aber in dieser Hinsicht eine grosse Verschieden- heit vor. Der Unterschied ist für normale und myopische Augen so gering, dass er oft nur mit Anwendung der schärfsten Hülfsmittel*) mit Gewissheit zu constatiren ist. Normale Augen werden nämlich in sehr geringem Grade hypermetropisch, so dass sie mit Gläsern von V80 oder %0, selten aber von V50 oder V40 einen ent- fernten Lichtpunkt deutlicher sehen. Myopen sehen eben- falls klar in der Entfernung mit einem kaum schwächeren Glase, als sonst erfordert wird. In Fällen von Hypermetro- pie dagegen ist der Unterschied nicht selten sehr bedeu- tend. Ich habe Fälle beobachteten welchen anfangs Gläser von p24 denen von y20 vorgezogen wurden, in welchen mit Gläsern von I/l6 und V12 sehr unvollkommen gesehen wurde, und in welchem trotzdem nach artificieller My- driasis Gläser von % herbeigezogen werden mussten, um deutlich in der Entfernung zu sehen. *) Ueber die Methode kann ich hier nicht ausführlich handeln. Ich "will nur bemerken, dass ein unendlich kleiner Lichtpunkt der beste Gegenstand ist, um die Grenzen des Accommodations-Yermögens zu bestimmen. 78 Das Bedürlniss das Accommodations - Vermögen bei jeder Beobachtung fast bis auf’s Aeusserste anzu- strengen, wurde zur Gewohnheit und dies giebt voll- kommen Rechenschaft von dem soeben Gesagten. So grosse Unterschiede kommen aber nur bei jungen Leu- ten vor, welche eine ansehnliche Accommodationsbreite haben, und durch Uebung im Stande sind einen grossen Theil derselben sogar bei paralellen Sehlinien zu ge- brauchen. In höherem Alter, und bei jungen Hyperme- tropen mit geringer Accommodationsbreite liefert die Be- stimmung vor und nach der kunstmässigen Mydriasis einen viel geringeren Unterschied. Uebrigens geht aus dem soeben Angeführten hervor, dass das Accommo- dationsvermögen bei Hypermetropie nicht gehörig be- rücksichtigt worden ist. Der Fehler war in einer un- richtigen Bestimmung des Fernpunktes gelegen, über den der Hypermetrop denn auch gewöhnlich nicht mehr verfügen kann. Diese Resultate haben mich auf einen wichtigen Unterschied zwischen emmetropischen und ametropi- schen Augen aufmerksam gemacht, nämlich auf die ver- schiedenen Grenzen des Accommodationsgebietes, welche jedem Grade von Convergenz der Sehlinien zukommen. Wir werden darüber in § 6 ausführlicher sein, nach- dem wir über Asthenopie gesprochen haben. IV. Asthenopie (Hebetudo visus). Schon lange Zeit hat ein eigenthümlicher Krank- heitszustand die Aufmerksamkeit der Ophthalmologen auf sich gezogen. Die Symptome sind sehr charakte- ristisch. Das Auge sieht vollkommen normal aus; seine Bewegungen sind ganz ungestört; die Convergenz der 79 Sehlinien bietet keine Schwierigkeit dar; das Sehver- mögen ist meistens sehr scharf; und trotz alledem ent- steht alsbald eine Ermüdung, beim Lesen, beim Schrei- ben und beim Verrichten von anderer Arbeit in der Nähe; die Gegenstände werden undeutlich und ver- wirrt, und es tritt ein Gefühl von Spannung namentlich oberhalb der Augen auf, so dass man gezwungen ist auszuruhen und von der Arbeit abzulassen. Nach eini- gen Augenblicken sieht man wiederum deutlich, aber noch geschwinder wie zuvor entwickele!! sich dieselben Symptome. Je länger man geruht hat, um so länger kann man auch wiederum mit der Arbeit fortfahren. So lange man sich nicht mit nahegelegenen Gegen- ständen beschäftigt, scheint das Sehvermögen normal zu sein, und kein unangenehmes Gefühl wird empfun- den. Versucht man dagegen die Arbeit in der Nähe durch kräftige Anstrengung trotz der empfundenen Nach- theile fortzusetzen, so nehmen die Symptome mehr und mehr zu; der Schmerz oberhalb der Augen wird inten- siver; die Augen werden roth, die Thränen fliessen reichlich; die Augen selbst schmerzen aber nur höchst selten. Beim Steigen der Erscheinungen sieht man sich genöthigt die Augen zu schliessen und mit der Hand über Stirn und Augen zu fahren. Nach zu lange fort- gesetzter Anstrengung muss jede Arbeit in der Nähe während längerer Zeit aufgegeben werden. Dieser Zustand wurde anfangs als eine Art Am- blyopie aufgefasst. Er wurde Hebetudo visus, Am- blyopie presbytique oder Amblyopie par pres- bytie geheissen. Das Wesen dieser Affection blieb aber ganz im Dunkeln. Mackenzie kam der Wahrheit näher. Vermuth- lieh ist, wie er sagt, der Sitz dieser Krankheit in dem Organe oder in den Organen der Accommodation zu su- chen. Die meisten Ophthalmologen gaben diesem Aus- 80 spräche ihren Beifall, hatten aber darum den Grund der Krankheit noch nicht entdeckt. Sie beobachteten wohl, dass das Accomodations-Vermögen sehr bald erschöpft war, dass convexe Gläser, deren Gebrauch Macken- zie noch verbieten zu müssen glaubte, die Symptome ganz oder doch zum Theile aufhoben, die Idee aber, dass hier ein ursprünglicher Bildungsfehler im Auge zu Grunde liege, kam nicht bei ihnen auf. Die Entstehungs- weise trug freilich das ihrige dazu bei, um diesen Ge- danken fern zu halten. Bis zum lßten, 20ten oder 25ten Jahre war das Sehvermögen normal geblieben; es wa- ren keine Klagen laut geworden; nach und nach aber wurde bei solchen Individuen die Arbeit in der Nähe, womit sie sich fortwährend beschäftigten stets schwie- riger und wurde mit der Arbeit dann einige Zeit auf- gehört, so trat Besserung ein. Konnte man unter sol- chen Umständen wohl an einem anderen Zustand als an einen später entwickelten denken und musste die Ursache nicht in übermässiger Anstrengung gesucht werden? Impaired vision from overwork,—dies ist der Titel unter dem sie White Cooper*) behandelt. Wenn man aber daran dachte damit die Entstehung aufgeklärt zu haben, so hatte man ganz übersehen, dass Tausende ihr Sehvermögen in ähnlicher, wo nicht in noch viel intensiverer Weise anstrengten, ohne darum aber von den so qualvollen Symptomen der Asthenopie oder impaired vision heimgesucht zu werden, und dass umgekehrt die Symptome bei Leuten ja sogar bei Kin- dern Vorkommen, welche ihr Sehvermögen gar nicht sehr in Anspruch genommen haben. Wenn dieselbe Ursache nicht stets dieselbe Folge- wirkung hervorruft, so wird eine im Grunde unklare Prädisposition angenommen. In Bezug auf die Astheno- *) On near sight, aged sight, impaired vision and the means of assisting sight. 2 ed. London, 1853. p. 125. 81 pie habe ich aber geglaubt die Frage stellen zu müs- sen, worauf diese Prädisposition denn doch beruht und alsbald überzeugte ich mich, dass sie durch eine an- geborene Abweichung, nämlich einen mässigen Grad von Hypermetropie, bedingt werde. Diese Hypermetro- pie ist aber mehr als Prädisposition, sie ist die Ursache der Asthenopie d. h. der Anlage des Auges beim Sehen in der Nähe bald zu ermüden. Jede Hyperme- tropie, welche in Beziehung zu der Accommodations- hreite einen gewissen Grad erreicht hat, ist zu gleicher Zeit Asthenopie. Wenn die Erscheinungen öfter erst in dem Alter von 25 Jahren auftreten, so ist dies nur dem zuzuschreiben, dass die Accommodationsbreite früher gross genug war um den vorhandenen Grad der Hy- permetropie zu bestreiten. Man hüte sich vor der Ver- wechslung von Ursache und Veranlassung. Die Veran- lassung für die Erscheinungen besteht in der fortwähren- den Anstrengung für das Sehen in der Nähe, die Ur- sache der Affection aber ist in dem hypermetropischen Baue des Auges gelegen. Die Asthenopie doch ist nicht die Ermüdung selbst, sondern vielmehr der Mangel an Kraft, wodurch die Ermüdung eintritt. Die hier ge- machte Unterscheidung; kommt mir leichtfasslich vor. Wenn Jemand beim Bergsteigen schnell erschöpft ist, so ist die Anstrengung wohl die nächste Veran- lassung für die Ermüdung, die Ursache ist aber in dem geringen Arbeitsvermögen seiner Muskeln in Be- ziehung zu seinem Körpergewichte gelegen. Dieses Missverhältnis besteht immerwährend, auch wenn er keine Berge besteigt; ja, was mehr ist, durch Uebung kann es theilweise reduzirt werden, und nur nach wiederholter übermässiger Anstrengung ohne genügende Pausen tritt die Ermattung noch früher ein als zuvor. Geradeso verhält sich die Hypermetropie zu der Asthe- nopie; nach jeder übermässiger Anstrengung wird län- Archiv für Ophthalmologie. VI. 1. 82 gere Ruhe gefordert; gänzlicher Mangel an Uebung lässt die Erscheinung bei der ersten Anstrengung aber noch geschwinder auftreten. Die Analogie ist vollkommen. Schon früher habe ich behauptet, dass Hyperme- tropie durchgehends der Asthenopie zu Grunde liegt. Man hat gegen diese Behauptung Zweifel erhoben. Jetzt aber gehe ich noch weiter, und wage es auszu- sprechen, dass Hypermetropie fast nie fehlt, wo Asthe- nopie beobachtet wird. Es kostete mich früher oft Mühe, ihre Existenz sicher darzuthun. Sie wurde gewöhnlich erst deutlich, nachdem die positiven Gläser eine Zeit lang vor den Augen gehalten worden wa- ren. Jetzt aber, wo ich bei Fällen von Asthenopie ein Mydriaticum in das Auge zu träufeln pflege, wird jedesmal die Existenz der Hypermetropie er- kannt. Unter den 100 letzten Fällen, welche mir vor- gekommen sind, war wenigstens kein einziger vorhan- den, in dem sie fehlte, ja sie war meistens ziemlich be- deutend entwickelt. Dieses Resultat schliesst die An- nahme nicht aus, dass Schwierigkeiten beim Sehen in der Nähe Vorkommen, ohne dass Asthenopie besteht. Congestive Zustände, vorzüglich bei Myopen, beginnende Amblyopie, auch granulöse Entzündung der Conjunctiva verhindern die fortwährende Anstrengung zum Sehen in der Nähe; die Erscheinungen weichen aber übrigens so sehr von denen der Asthenopie ab, dass es wohl Nie- mand einfallen wird, sie zu einer und derselben Cate- gorie zu rechnen. Auch Neuralgie des Auges mit Schmerzen in demselben, nimmt bei Anstrengung gewöhn- lich zu, sie hat aber ebensowenig mit Asthenopie gemein. Die einzige Anomalie, welche mit ähnlichen Erscheinungen auftritt, ist eine Muskelanomalie, welche Schwierigkeit bei der Convergenz bedingt; v. Gräfe*) hat hierauf *) Archiv f. Ophthalmologie Bd. II, Abth. I, S. 174. 83 aufmerksam gemacht. Auch ich habe öfter ähnliche Fälle beobachtet*) aber im Verhältniss zur Asthe- nopie aus Hypermetropie kommen sie höchst selten vor, was schon daraus hervorgeht, dass von 100 hinter- einander beobachteten Fällen kein einziger dazu ge- hörte. Das Einträufeln von einer schwachen Lösung von sulph. atropini reicht nicht hin, um bei jungen In- dividuen die Existenz eines geringen Grades z. B. von V24 oder V20 von Hypermetropie genau darzuthun. Die Lösung muss ziemlich stark sein, wenigstens wenn man den Grad der Hypermetropie bestimmen will. Eine Lö- sung von 1 : 2000 (d. h. von 1 Theil sulph. atrop. auf 2000 Th. Wasser) bewirkt zwar vollkommene Erweite- rung der Pupille, reicht aber nicht hin, um die Accommo- dationsmuskeln ganz zu lähmen;**) dazu wird eine Lösung von 1 : 120 oder 1 : 140 nöthig sein. Dieses Factum ist an und für sich nicht ganz bedeutungslos, weil es einen neuen Beweis liefert, dass die Iris in keinem unmittel- baren Zusammenhänge mit dem Accommodationsmecha- nismus steht. Auch lehrt es uns ein Mittel kennen, um den Augapfel ohne Störung für den Kranken zu er- weitern, so oft wir dies für eine genaue ophthalmosco- pische Untersuchung wünschenswerth achten. Hier wird es aber nur angeführt, damit man aus Erweiterung der Pu- *) Bei Myopen kommt die Insufficienz der musculi recti interni un- ter ganz eigentümlichen Umständen vor. Myopen von l/2‘/a bis % sehen beim Lesen fast immer nur mit einem Auge. Wenn man ihnen nun Gläser von — % vorhält, so wird die Entfernung beim Lesen auf 5 bis 6 Zoll vom Auge gebracht. Dabei nun versucht der Myop oft mit beiden Augen zugleich zu sehen. Darauf folgt aber Ermüdung, die keineswegs von Anstrengung des Accomodations - Apparates herrührt, welche gar nicht erfordert wird, sondern von der erforderten Convergenz auf 6", welche nicht geübt worden ist. **) Siehe auch Kuyper Ouderzoekingen omtrent de kunstmatige ver- wyding von den oogappel. — eine unter meiner Leitung iu neuerer Zeit bearbeitete Dissertation. 84 pille durch ein Mydriaticum nicht unbedingt auf den Verlust des Accommodations - Vermögens schliesse. Einige Male wurde sogar nach Anwendung einer schwachen Lösung bei schon ziemlicher Erweiterung ein geringerer Grad von Hypermetropie als zuvor wahrge- nommen, so dass es schien, dass der Fernpunkt dem Auge anfänglich ein mlnimum genähert war. V. Relative Accommodationsbreite. Jetzt nachdem es factisch dargethan ist, dass Asthe- nopie auf Hypermetropie beruht, scheint erstere eine so natürliche Folge zu sein der letzteren, dass der Schluss a priori augenscheinlich auf der Hand lag. Und doch verdient dieser Zusammenhang wohl noch einigermassen beleuchtet zu werden. Seit langer Zeit war es bewiesen, dass kein abso- luter Zusammenhang zwischen dem Accommodations- zustande des Auges und der Convergenz der Sehlinien existirt. Bei demselben Grade der Convergenz ist Unterschied in der Accommodation und umgekehrt möglich. Nachdem ich die Accommodationsbreite im Allgemeinen bestimmt hatte, schien es mir nicht bedeu- tungslos die relative Accommodationsbreite bei jedem Grade der Convergenz aus den dabei vorkommenden Accommodatiousgrenzen herzuleiten. Einige dahin ge- hörige Bestimmungen sind s