Abdruck aus den Berichten der math.-phys. Classe der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften. I 805.) E. Cyon, Ueber den Einfluss der hinteren Nervenwurzeln des Rückenmarkes auf die Erregbarkeit der vorderen. (Vorgelegt in der Sitzung vom 27. November 1865 von dem w. Mitglied C.Ludwig.) Einige pathologische Beobachtungen, besonders aber die Bewegungsstörungen bei Tabetischen, machten es mir in hohem Grade wahrscheinlich, dass die Erregbarkeit der Muskeln resp. die ihrer Nerven sich in einer gewissen Abhängigkeit von dem Zustande der hinteren Wurzeln befinde. Ich stellte daher im physiologischen Institut des Herrn Prof. G. Ludwig zu Leipzig eine Beihe von Versuchen zur Eruirung dieser Abhängigkeit an. Die Frage, welche ich zu lösen beabsichtigte, lautete dahin : üben die hinteren Wurzeln einen Einfluss auf die Erregbarkeit der motorischen Gebilde, auch wenn von aussen her kein künst- licher Reiz auf sie einwirkt. Um sie zu entscheiden genügte der Nachweis, dass die Reizbarkeit der vorderen Wurzeln nach Durchschneidung der hinteren geringer sei als vor dieser Operation. Die Hoffnung, diesen Nachweis liefern zu können, beruhte darauf: 1) dass man im Stande war, die Wurzeln ohne schädliche Folgen für ihre Lebenseigenschaften auf die Reizträger zu brin- gen. Dies erreichte ich durch folgende Mittel: a. durch die Art der Reizträger (s. Figur auf umstehender Seite). Auf dem Brette, auf welchem ein Frosch mittelst Bänder befestigt war, befand sich in einer verschiebbaren Hülse in senkrechter Stellung ein metallischer Stab, und auf diesem be- wegte sich eine Glasstange. Auf dieser letztem waren drei Rollen angebracht, an denen drei Häkchen herunterhingen. Die mittlere Rolle war aus Elfenbein und das von ihr herabhängende Häkchen aus Glas. Die übrigen zwei Rollen waren aus Kork mit metallischen Ringen, an denen mittelst Goldfäden melal- E. Cyon, lische Häkchen beweglich befestigt waren. Die Electroden wur- den an diese metallischen Ringe befestigt. Nach Eröffnung der unteren Partie des Wirbelkanals legte ich die hinteren Wurzeln möglichst schonend auf das Glashäkchen; die vorderen Wurzeln wurden auf die metallischen Häkchen gebracht. Diese nach Angabe des Prof. Ludwig construirten Reizträger fand ich unter mehreren von mir erprobten am bequemsten und am sichersten. Bei dieser Vorrichtung lässt sich der Versuch mit grosser Leich- tigkeit ausfübren. b. Um während des Versuchs die Wurzeln vor Verdunstung zu schützen, wurde die ganze eben beschriebene Vorrichtung unter einen Kasten aus Glasscheiben gebracht; aus ihm führten üb. d. Einfluss d. iiint. Nervenwurzeln d. Rückenmarkes etc. die Leitungsschnüre, welche die Electroden mit dem Inductions- apparat in Verbindung setzten, und in ihm waren während des Versuches feuchte Papiere enthalten. c. Bevor ich die hinteren Wurzeln durchschnitl, prüfte ich dieselben jedesmal auf ihre Unversehrtheit durch einen Reflex- versuch. Zum Versuch verwendete ich nur solche Frösche, bei welchen ein leichter Hautreiz eine Reflexbewegung hervor- brachte. Nach einer sorgfältigen Präparation hatte, so schien es, die Reflexempfindlichkeit kaum abgenommen; in wie weit die- ses der Fall, hätte freilich nur entschieden werden können durch Vergleichung der Erregbarkeit vor und nach der Ope- ration. Solche Versuche habe ich nicht angestellt, da es mir nur darauf ankam zu wissen, ob die hinteren Wurzeln noch lebhaft empfindlich seien. d. Die Reizbarkeit der vorderen Wurzeln prüfte ich wieder- holt vor der Durchschneidung der hinteren. Es schien mir, als sei der Einfluss der hinteren auf die Erregbarkeit der vorderen nur dann festgestellt, wenn eine bis dahin constant gebliebene Reizbarkeit plötzlich vermindert wird durch die Zerschneidung der hinteren Wurzeln. Unmittelbar nachdem die vorderen Wur- zeln auf die Electroden gelegt worden sind, pflegt die Reizbar- keit gewöhnlich etwas zu sinken; nach Verfluss einiger Minuten bleibt sie dann meist constant; war dieses 5 Minuten hindurch geschehen, so wurden plötzlich die hinteren Wurzeln durch- schnitten. Ich brauche kaum hinzuzusetzen, dass der prüfende Reiz, weil er ein minimaler und ein kurzdauernder war, keine merkliche Ermüdung hinterliess. 2) Da die Erregbarkeit der vorderen Wurzeln durch die Stärke des Reizes geprüft werden musste, der eben hinreichte, um einen bestimmten Muskel, den reizbarsten oder den von Reize am günstigsten getroffenen (wie ich beobachtet habe, immer die Beuger der Hinterbeine), der unteren Extremitäten in Zuckung zu versetzen, so war ein constanter Reiz nothwendig, und in- sofern es sich um Auffassung sehr geringer Unterschiede han- delte, — ein sehr fein abslufbarer. — Ich benutzte daher zur Erregung von Inductionsströmen ein ganz schwach gefülltes Bunsen’sches Element. Aus dem Inductionsapparate waren alle Stäbe entfernt. — Da Jos. Henry nachgewiesen hat, dass in den gewöhnlichen Inductionsapparaten die Schliessungsschläge viel schwächer als die Oeffnungsschläge sind, so benutzte ich einen E. Cyon, Schlittenapparat, an dem zur Vermeidung dieses Uebelstandes eine Helmhollz’sche Vorrichtung angebracht war. — Den Reiz liess ich um mehrere Secunden andauern, lange genug, um die Summirung der einzelnen Schläge zu gewähren, und doch kurz genug, um die Reizbarkeit der direct getroffenen Nervenstelle nicht zu beeinträchtigen. 3) Die hinteren Wurzeln wurden mit einer scharfen Scheere rasch und möglichst schmerzlos durchschnitten, damit durch diese Operation kein neuer Reiz eingeführt werden soll. Treten bei der Durchschneidung Krämpfe ein, so misslingt in der Regel der Versuch infolge des hinzugetretenen Reizes. Aus den zahlreichen von mir zu diesem Zwecke mit der grössten Sorgfalt angestellten Versuchen führe ich als Probe folgende an. 1. Versuch. Stand der secundären Zeit. Rolle beim Eintritt der kleinsten Zuckung in Uhr. Min. den Zehenbeugern. 9. 30 Blosslegung der Wurzeln und Auflegen derselben auf die Reizlräger. Entfernung d. Rolle von 0. 9. 33 4 G. 9. 40 4 C. 9.40 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 7—8G. 9. 42 . . 8 G. 9. 50 8 G. 9. 55 Anlegen der Wurzeln der anderen Seite auf die Reizträger. 9.56 V 5 G. 10. 2 5 C. 10, 2 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 8 G. 10. 15 8 G. 2. Versuch. 4. 10 Blosslegung der Wurzeln und Anbrin- gen derselben auf die Reizträger. 4.12 HG. 4. 20 HG. 4.20 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 5 G. 4. 30 5 C. üb. d. Einfluss d. iiint. Nervenwurzeln d. Rückenmarkes etc. Stand der secundären Zeit. Rolle beim Eintritt der kleinsten Zuckung in Uhr. Min. den Zehenbeugern. 4. 32 Auflegen der Wurzeln der anderen Seite auf die Reizlräger. Entfernung d. Rolle von 0. 4. 32 3 C. 4. 40 3 C. 4. 40 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 6 C. 4. 50 , 64 C. 3. Versuch. 11.30 Blosslegung der Wurzeln und Auflegen auf die Reizlräger. 11. 32 3-4-—4 G. 11. 40 4 G. 11.40 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 7—7£ C. 11. 43 8 G. 11.50 8 C. 11.55 Auflegen der Wurzeln der anderen Seite auf die Reizträger. 11.58 6 G. 12. 6 6 G. 12. 6 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 8 G. 12. 16 8* C. 4. Versuch. 4. 15 Rlosslegung der Wurzeln und Auflegen auf die Reizträger. 4. 20 1 C. 4. 25 1 C. 4.25 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 5 C. 4. 32 5-4 G. 4. 35 Auflegen der Wurzeln der anderen Seile auf die Reizträger. 4. 37 ' 3 G. 4. 45 3 G. 4.45 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 6 C. 4. 50 64 G. 4. 55 64- C. E. Cyon, Aus diesen Versuchen ist also zu schliessen, dass durch Vermittlung der hinteren Wurzeln den vorderen ein höherer Erregbarkeitsgrad ertheilt werde. Unter allen bekannten Versuchen schliessen sich , wie es scheint, die meinen am nächsten denjenigen an, welche Brond- geest über den Tonus der Muskeln eines decapilirten Frosches angestellt hat. Die schwache tetanische Zusammenziehung, welche Brondgeest beobachtet hat, rührt bekanntlich von einer reflectorischen Erregung her. Dieses wird dadurch bewiesen, dass nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln die Zusammen- ziehung der Muskeln nachlässt und noch mehr dadurch, dass die Muskelgruppen, auf welche sich der von Brondgeest beobachtete Tetanus beschränkt, gerade dieselben sind, welche auch durch einen Hautreiz zumeist in reflectorische Zuckungen geralhen. Geht man von der unverfänglichen Annahme aus, dass ein Muskelnerv, der schon in schwacher Erregung begriffen ist, durch einen neu hinzutretenden Beiz ehereine merkliche Zuckung erzeugen kann als ein solcher, dem jener erste Erregungsgrad fehlt, so wird man geneigt sein, meinen Versuch nur als eine andere Modification des Brondgeest’schen anzusehen. Ich würde mich ebenfalls dieser Meinung anschliessen, wenn mich hiervon nicht mehrere Bedenken abhielten. Zunächst fand ich, dass allerdings die Nerven der Muskeln, welche vom Brondgeest’schen Tonus ergriffen werden, bei un- versehrten hinteren Wurzeln auch vorzugsweise reizbar sind; doch ist dieses keineswegs ausschliesslich der Fall, da auch die Streckmuskeln der unteren Extremität, welche doch zu den Hautnerven in einer weniger ausgesprochenen Beziehung stehen, bei Unversehrtheit der hinteren Wurzeln ebenfalls reizbarer waren als nach Verletzung derselben. Hierdurch wird allerdings kein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden Beobachtungs- reihen begründet, da möglicherweise auch durch die reflectori- sche Erregung die Streckmuskeln getroffen werden. Einem ähnlichen Einwand scheint ein zweites Bedenken nicht zu unterliegen. Bekanntlich wird die reflectorische Erreg- barkeit der hinteren Extremität sehr erhöht durch einen Schnitt, welchen das Rückenmark vom Hirn trennt. Wäre also die erhöhte Erregbarkeit der vorderen Wurzeln unter dem Einfluss einer reflectorischen Wirkung der hinteren zu Stande gekommen , so hätte man erwarten müssen, dass die Durchschneidung des üb. d. Einfluss n. hint. Nervenwurzeln d. Rückenmarkes etc. Rückenmarkes die Reizbarkeit der vorderen Wurzeln noch wei- ter gesteigert hätte. Der Versuch ergab jedoch das Gegentheil. Aus einer grös- seren Zahl von Versuchen theile ich die zwei folgenden als Pro- ben mit. In dem ersten von beiden wurde zuerst die Reizbar- keit der vorderen Wurzeln vor und dann nach allmählig fort- schreitender Abtragung des Rückenmarkes bei erhaltenen hinteren Wurzeln geprüft. In dem zweiten wurden vor der Zerschneidung des Rückenmarkes auch die hinteren Wurzeln durchtrennt. 5. Versuch. Stand der secundären Zeit. Spirale beim Eintritt Uhr. Min. der kleinsten Zuckung. 9. 45 Rlosslegung des ganzen Wirbelcanals. Entfernung d. Rolle von 0. 9. 50 4 G. 9. 54 4 C. 9. 55 Abtragung der Grosshemisphären . . . . 5 C. 9. 56 Abtragung der Thalami opt. 7 G. 9. 58 Abtragung der Corp. quadr 7 C. 10.— Abtragung der Medulla oblongata . . . . 9 C. 10. 2 Schnitt in der Mitte der Rautengrube . . . 8^-G. 10. 5 Schnitt in der Höhe des Plexus brach. . . 10 C. 10. 8 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 12 G. 10. 14 12—13C. 6. Versuch. 5. 10 Blosslegung des Wirbelcanals. 5. 15 . . . 2 G. 5. 20 2 C. 5. 20 Durchschneidung der hinteren Wurzeln . . 5 G. 5. 22 Abtragung der Grosshemisphären . . . . 5 C. 5. 24 Abtragung der Thalami opt 5 C. 5. 26 Schnitt durch die vordere Fläche der Medulla oblongata 4 C. 5. 28 Abtragung der Medulla oblongata . . . . 5 G. 5. 30 Schnitt in der Mitte der Rautengrube . . . 4 G. 5. 33 Schnitt in der Höhe des Plexus brach. . . 5 G. 5. 35 Schnitt einige Millimeter tiefer 5 C. 5. 37 Durchschneidung der vorderen Wurzeln . . 3| C. 5. 45 6 C. E. Cyon, üb. d. Einfluss d. hinteren Nervexwurzeln etc. Aus diesen und einer ganzen Reihe gleichlautender Ver- suche ist ersichtlich, dass wenn die hinteren Wurzeln intact sind, so bringt die Abtragung von verschiedenen Hirn- und Rückenmarkspartien ein Sinken der Erregbarkeit der vorderen Wurzeln hervor. Sind aber die hinteren Wurzeln durchschnit- ten, so sinkt die Erregbarkeit der vorderen gleich nach dieser Operation, um dann bei Abtragung von Partien des Hirns und Rückenmaikes mit unbedeutenden Schwankungen constant zu bleiben. Diese Ergebnisse lassen zwei Interpretationen zu. Ent- weder die sensiblen Nerven werden selbständig vom Rücken- mark aus erregt und sind in Folge dessen befähigt, an der Peri- pherie auf die motorischen Nerven oder die Muskeln zu wirken. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass dieser Annahme weder anatomische Gründe noch physiologische Analogien das Wort reden. Oder die Orte der nervösen Gentren, an welchen die motorischen Nerven durch die sensiblen beeinflusst werden, sind mehrfache; wäre dieses der Fall, so würde damit eine wesentliche Verschiedenheit zwischen meinen und Brondgeest’s Versuchen erwiesen sein.