XV. Ueber die physiologische Wirkung des Chloroform's. \y\°n Dr. J. Bernstein in Heidelberg. Trotzdem das Chloroform tagtäglich in der praktischen Medicin Anwendung findet, ist man docli über seine Wirkungsweise noch nicht im Klaren. Man kennt zwar sehr genau die Erscheinungen, von welchen bei Menschen und Thieren eine Vergiftung mit Chloroform begleitet ist. Man weiss, dass nach einem kurzen Stadium der Auf- regung zuerst die Empfänglichkeit für Gefühlseindrücke und Schmerz abnimmt und endlich fast schwindet, man wTeiss, dass gleichzeitig das Bewusstsein aufhört und ein schlafähnlicher Zustand eintritt, man weiss auch, dass schliesslich alle Bewegungen gelähmt werden und durch Lähmung der Athemmuskeln der Tod herbeigeführt werden kann, und man hat aus Alledem geschlossen, dass eine allmälige Lähmung des Nervensystems die Ursache dieser Erscheinungen sei. Aber man weiss nicht genau, welche Theile des Nervensystems hauptsächlich der Einwirkung des Giftes unterliegen. Da die Abnahme der Sensibilität zunächst am auffälligsten und praktisch am wichtigsten erschien, so hat man das Chloroform ein Anästheticurn genannt. Man spricht ferner von einer Chloroform-Narkose, indem man seine schlafmachende Wirkung mit der der Narkotica vergleicht. Trotzdem es von diesen 2 seiner Natur nach sehr verschieden ist, so stimmen sie doch darin überein, dass sie beide auf das Gehirn lähmend einwirken. Es konnte also nicht zweifelhaft sein, dass die Centralorgane des Nervensystems sehr wesentlich an der Vergiftung betheiligt sind. Am nächsten liegt es nun, zu ermitteln, ob nur die Centren und ob nicht auch die peripherischen Nerven durch das Chloroform in ihrer Function beeinträchtigt werden. Es ist bekannt, dass in der Chloroform-Narkose und nach dem Tode durch Chloroform die motori- schen Nerven noch erregbar sind, aber es ist nicht genau festgestellt worden, ob die Erregbarkeit derselben durch die Einwirkung des Giftes abnimmt oder nicht. Ich wandte mich daher zunächst zur Unter- suchung dieses Punktes. 1. Wirkt das Chloroforra auf die motorischen Nerven ? Am leichtesten lässt sich diese Frage durch Versuche an Fröschen entscheiden. Man chloroformirt einen Frosch einfach dadurch, dass man ihn unter eine massig grosse Glas-Glocke setzt, in der sich ein mit 10—15 Tropfen Chloroform befeuchtetes Schwämmchen befindet. Der Frosch ist zuerst sehr unruhig, dann erlahmen allmälig seine Bewe- gungen und schliesslich hört auch die Respiration auf. Dies geschieht ungefähr innerhalb 5 Minuten. Nimmt man ihn jetzt heraus, so ist er für jede Art von Reizung unerregbar. Sehr bald aber, ungefähr nach 10—15 Minuten, fängt die Respiration wieder an, willkührliche Bewegungen treten wieder auf und der Frosch erholt sich vollkommen. Das Herz hat während dieses ganzen Vorgangs fortpulsirt. Lässt man den Frosch noch länger in der Chloroform-Atmosphäre liegen, so gelingt es meistens nicht mehr ihn in’s Leben wieder zurückzurufen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Chloroform als Gas durch die Lungen und die Haut des Frosches in’s Blut aufgenommen wird, mit diesem ins Herz gelangt und von dort sich in alle Bezirke des Körpers verbreitet. Ist demnach ein Körpertheil von der Circulation ausgeschlossen, so wird er vom Gift nicht afficirt werden. Ich unter- band daher die Art. iliaca der einen Seite eines Frosches vom Rücken 3 aus und chloroformirte ihn dann auf die angegebene Weise. Nachdem er unerregbar geworden war, machte ich aus den beiden untern Extre- mitäten 2 Präparate in der Form der stromprüfenden Froschschenkel, und legte die beiden Nn. Ischiadici mit gleichweit vom Muskel ent- fernten Stellen auf die Electroden der secundären Spirale eines Magnet- electromotors. Nun näherte ich der primären Spirale die anfangs von ihr entfernte secundäre während das Hämmerchen des Apparates spielte, bis in den Schenkeln die erste Spur einer Zuckung auftrat. Als Beispiel möge folgender Versuch dienen : Grosser Frosch. Linke Iliaca unterbunden. Frosch durch Chloro- form unerregbar gemacht. Beide Schenkel präparirt. Nerven auf die Electroden gelegt. Abstand der secundären von der primären Spirale bei den ersten Zuckungen im rechten Schenkel. linken Schenkel. 1 Uhr 55 M. . , ... 380 3ß0 - * 56 » . ... 358 358 - „ 59 T> , ... 320 320 - „ 60 V . . .330 330 2 » 2 n • . ... 318 318 2 n 5 7) , ... 300 300 Man sieht, dass die Erregbarkeit rechts und links dieselbe ist. Das gleiche Resultat erhielt ich in 6 andern Versuchen derselben Art. Als Electroden dienten mir hierbei 2 amalgamirte Zinkstreifen innerhalb eines kleinen länglichen, oben durch eine Glasplatte gedeckten Guttapercha-Kästchens, in welchem die Nerven lagen, um vor’m Vertrockenen geschützt zu sein. Der dem chloroformirten Blute aus- gesetzte Schenkel zeigt also dieselbe Erregbarkeit wie der andre vom Kreislauf ausgeschlossene Schenkel und es scheint demnach der Schluss gerechtfertigt, dass in diesem Versuche das Chloroform auf die moto- rischen Nerven nicht eingewirkt habe. Dass die Unterbindung der Uiaca innerhalb der Zeit, in welcher der Versuch stattfindet, keinen Einfluss auf die Erregbarkeit des Nerven hat, davon überzeugte ich mich durch Versuche, in denen ich nach 4 Unterbindung dieses Gefässes beide Schenkel in derselben Weise prüfte, ohne den Frosch vorher zu chloroformiren. Ich fand sie stets gleich erregbar. Ausserdem könnte man einwenden, dass das Chloro- form in beide Schenkel durch Diffussion eingedrungen sei und die Erregbarkeit der Nerven in gleicher Weise verändert habe. Ich chloroformirte daher den Frosch auf eine andere Art. Der Kopf desselben wurde in einem kleinen Trichter befestigt, in dessen Rohr sich ein Schwämmchen mit Chloroform befand. Hierbei kam der Chloroform-Dampf mit den Schenkeln nicht in Berührung. Auch dann zeigte sich jedes Mal, dass die Nerven der unterbundenen und nicht unterbundenen Extremität dieselbe Erregbarkeit besassen. Schliess- lich amputirte ich einem Frosche eine Extremität ohne Blutverlust und chloroformirte ihn dann, während das amputirte Bein dem Chloroform nicht ausgesetzt wurde. Auch hier erfolgten bei gleichzeitiger Reizung beider Nn. Ischiadici die ersten Zuckungen in beiden Schenkeln bei gleichem Abstand der Rollen des Magnetelectromotors. Aus diesen Versuchen lässt sich demnach mit Sicherheit folgern : „Zu einer Zeit, in welcher die Chloroform - Dämpfe bereits vollständige Lähmung der willkührlichen Bewegungen, Reflexbewegungen und der Athembe- wegungen eines Frosches erzeugt haben, sind die motorischen Nerven in keiner Weise in ihrer Function beeinträchtigt.“ Es fragt sich indess, ob das Chloroform den motorischen Nerven nicht angreife, wenn es in stärkerem Maasse auf ihn ein wirkt, als es vom Blut aus möglich ist. Man stellt diese Bedingung am einfachsten her, wenn man den ausgeschnittenen Nerven in eine Chloroform- Atmosphäre bringt und nun die Veränderung seiner Erregbarkeit prüft. In dieser Weise ist folgender Versuch angestellt. Man lege den Nerven eines stromprüfenden Froschschenkels auf die Electroden des vorhin beschriebenen Guttapercha-Kästchens, die mit der secundären Rolle eines Magnetelectromotors in Verbindung stehen und notire denjenigen Abstand derselben von der primären Rolle bei dem die ersten Zuckungen auftreten. Dann bringe man ein kleines Stückchen Schwamm, das mit ein Paar Tropfen Chloroform befeuchtet ist, in das Kästchen und prüfe wiederum die Erregbarkeit. Nach einigen Minuten nehme man den Schwamm heraus, lasse den 5 Deckel des Kästchens so lange fort bis der Chloroform - Geruch in demselben verschwunden ist und beobachte wieder die Veränderungen der Erregbarkeit. Folgende Beispiele gaben ein Bild derselben. Rollenabstand bei den ersten Zuckungen. 1) 10 Uhr 35 M 395 Chloroform hineingebracht. - „ - » 415 - „ ~ * 440 - * 36 „ 445 - * 39 * 230 Chloroform herausgenommen. - * 41 200 - „ ~ » 210 2) 4 „ 2 „ 370 Chloroform hineingebracht. - „ 4 „ . 300 Chloroform entfernt. - * 6 v 300 - » 10 „ 310 - n 13 335 Man sieht aus 1), dass im ersten Moment der Einwirkung die Erregbarkeit sehr deutlich stieg, dann aber sehr schnell abnahm. Würde das Chloroform noch länger im Kästchen geblieben sein, so wäre der Nerv vollständig unerregbar geworden sein, wie dies in andern Versuchen geschah. Nachdem jedoch das Chloroform entfernt war, erholte sich der Nerv wieder, indem seine Erregbarkeit zunahm. Das erste schnell vorübergehende Stadium der erhöhten Erreg- barkeit wird man nur dann mit Sicherheit beobachten, wenn man sich nur sehr kleiner Mengen Chloroform bedient und gleich wie in 1) nach Einbringung derselben die Prüfung vornimmt. Sonst ent- zieht sich dasselbe der Wahrnehmung, wie Versuch 2) zeigt. Es wirkt also das Chloroform auch auf den motorischen Nerven. Aber es ist hierzu eine grössere Quantität desselben nothwendig als das Blut in sich aufnimmt bis die Narkose eingetreten ist. 6 2. Wirkt das Chloroform auf die sensibeln Nerven? In der Chloroform - Narkose ist die Abnahme der Sensibilität das erste Zeichen der lähmenden Einwirkung des Giftes. Verschwindet sie vollständig, so fehlen alle willkürlichen Schmerzensäusserungen und alle Reflexbewegungen, die sonst eintreten, wenn ein Reiz empfindliche Partieen des Körpers trifft. Gleichzeitig hört dabei das Bewusstsein auf und der Wille verliert seine Herrschaft über das Denken und Thun. — Es ist miissig Hypothesen darüber zu machen, welche Vorgänge bei dieser künstlichen Lähmung im Nervensystem stattfinden, da wir nicht einmal wissen worin die natürliche Erschlaffung desselben, der Schlaf, besteht. Wohl aber muss man sich fragen, ob das Verschwunden der Sensibilität darauf beruhe, dass die Nervencen- tren unfähig werden sensibele Erregungen zu percipiren oder ob die sensibeln Nerven unfähig werden solche zu leiten, oder drittens ob beide Tlieile des Nervensystems ihre Function einstellen. Von vornherein sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Einwirkung des Chloroforms auf die Nervencentren den wesentlichen Antheil an der Herabsetzung der Erregbarkeit habe, und die im vorigen Abschnitt angeführten Versuche geben bereits volle Gewissheit darüber. In diesen Versuchen wurde die Iliaca einer Seite unterbunden und die Extremität derselben dadurch dem directen Einfluss des Giftes entzogen. Das Chloroform konnte also weder mit den motorischen noch den sensibeln Nerven des abgeschnürten Beines in Berührung kommen. Trotzdem war die Empfindlichkeit in diesem Bein ebenso schnell und in demselben Maasse geschwunden wie in dem andern, in welchem das chloroformhaltige Blut kreiste. Diese Uebereinstimmung in der Empfindungslosigkeit beider Extremitäten kann nur eine ge- meinsame ausser ihnen liegenden Ursache haben und es ist kein Zweifel, dass dieselbe in der Unerregbarkeit der zugehörigen Nerven- centren besteht. Wohl ist hiermit bewiesen, dass die Empfindungslosigkeit wesent- lich durch Lähmung der Centren zu Stande komme, aber es ist noch nicht die Frage entschieden, ob das Chloroform nicht neben den Nervencentren auch noch die sensibeln Nerven lähme. Die eben ilOLESCHOTT, Untersuchungen. X. angeführten Versuche konnten hierüber keine Gewissheit verschaffen. Denn es war nicht möglich zu ermitteln, ob auf der einen Seite durch den Einfluss des chloroformhaltigen Blutes die sensibeln Fasern unfähig gemacht waren Erregungen zu leiten, und ob sie auf der andern, wo die Unterbindung stattgefunden, diese Fähigkeit beibehalten hatten. Auf beiden Seiten antworteten die Nervencentren eben nicht mehr auf die Anfrage eines Reizes. Viele vergebliche Versuche in dieser Richtung führten zu keinem sicheren Ziele, und ich gab es endlich auf die Frage direct zu erle- digen, als ich plötzlich auf einem ganz andern Wege diesem Ziele naher kam. Ich suchte nämlich die Einwirkung des Chloroforms auf die verschiedenen Theile der Nervencentren zu ermitteln und stellte zu diesem Zwecke einen Versuch an, der damals auf den ersten Blick einen für mich sehr überraschenden Erfolg hatte. Derselbe bestand in Folgendem: Einem Frosch wurde das Rückenmark zwischen dem dritten und vierten Wirbel zerschnitten. Diese Operation erfolgt ohne dass Zuckungen weder in den untern noch in den obern Körpertheilen eintreten (Van Deen’scher Versuch). Hierdurch ist das Thier in zwei unabhängig von einander reagirende Hälften getheilt, von denen jede nur auf diejenigen Reize antwortet die auf dieselbe einwirken. Nunmehr wurde der Frosch auf die gewöhnliche Weise unter der Glocke chloroformirt bis die Athembewegungen aufgehört hatten und dann herausgenommen. Es zeigten sich bei der Reizung der obern Extremitäten keinerlei Reflexerscheinungen, aber wie erstaunte ich als ich dieselben in den untern Extremitäten in ungeschwächtem Maasse auftreten sah. Wurden dieselben in irgend einer Weise gereizt, so entstanden in ihnen jene bekannten Bewegungen, die man an geköpften Fröschen beobachtet. Zuerst glaubte ich dass dieser Erscheinung eine verschiedenartige Wirkung des Chloroforms auf verschiedene Theile der Nervencentra zu Grunde liege, nur war es wunderbar, dass dieselbe ausblieb sobald Gehirn und Rückenmark im normalen Zusammenhänge blieben. Denn niemals bemerkte ich, dass bei einem unverletzten Frosche die Reflexe in den obern Extremitäten früher verschwinden als in den untern. Um der Sache näher auf die Spur zu kommen, ging ich allmälig mit 8 Schnitten durch’s Rückenmark immer weiter nach oben hinauf bis zum verlängerten Mark. Jedesmal zeigte sich, dass ein so behandelter Frosch zu einer Zeit, in welcher ein ebenso grosser unverletzter Frosch der sich unter derselben Glocke befand nicht mehr erregbar war, in den untern Extremitäten auf Reize noch die heftigsten Reflexbewegungen machte. Dagegen war in den über dem Schnitt gelegenen Körper- theilen vollständige Lähmung eingetreten. In denjenigen Versuchen, in welchen das verlängerte Mark vom Rückenmark getrennt wurde durch einen Schnitt dicht oberhalb des ersten Wirbels, konnten nach der Einwirkung des Chloroforms auch in den obern Extremitäten ganz ebenso wie in den untern Reflexe ausgelöst werden, während bei Berührung der Hornhaut keine eintraten. In diesen letzten Versuchen hätte das Aufhören der Athembe- wegungen, welche die Durchschneidung des Markes an dieser Stelle zur Folge hat von Einfluss sein können auf die Wirkung des Chloro- forms. Indessen ich überzeugte mich, dass dem nicht so sei. Denn wenn ich einem Frosch die Luftröhre unterband und ihn mit einem gesunden Frosche unter einer Glocke chloroformirte, war kein Unter- schied der Vergiftungserscheinungen an beiden bemerkbar; sie verloren zu gleicher Zeit ihre Erregbarkeit, und es folgt hieraus, dass bei einem Frosch die Aufnahme des Chloroforms durch die Lungen gegen die Aufnahme durch die Haut verschwindet. Die auf die angegebene Art operirten Frösche waren nun aber keineswegs vollständig immun gegen die Einwirkung des Chloroforms. Zu einer Zeit, in welcher ein normaler Frosch keine Reizungen mehr beantwortet, war freilich von einer Vergiftungserscheinung kaum etwas zu merken. Wenn man aber dieselben längere Zeit den Chloroform - Dämpfen aussetzte, so traten auch hier allmälig dieselben Lähmungen der Sensibilität und Motilität ein wie bei unverletzten Thieren. Als ich nun die Durchschneidung oberhalb des verlängerten Markes vornahm, hörte jenes Phänomen plötzlich auf. Die so operirten Frösche, bei denen der Schnitt dicht unter dem Hinterhaupt etwas nach vorn hin geführt war, wurden ebenso schnell von der Narkose ergriffen wie unversehrte Thiere und zeigten keinerlei Reflexe mehr bei Reizungen irgend einer Körperstelle des Rumpfes. Ich verglich 9 sodann zwei Frösche , von denen der eine einen Schnitt oberhalb der andre einen Schnitt unterhalb des verlängerten Markes erhalten hatte und fand, dass, wenn der erste schon ganz gelähmt war, der zweite noch ganz munter auf jeden Reiz reagirte und erst sehr viel später der Einwirkung des Chloroforms unterlag. Ich führe von diesen Versuchen je einen als Beispiel an : 15. 11. 64. 1) Frosch 1 normal, Frosch 2 Schnitt über dem ersten Wirbel. Beide werden chloroformirt. 1 ist nach 6 Min. unerregbar, 2 noch vollkommen erregbar und wird erst nach 20 Min. unerregbar. 16. 11. 64. 2) Frosch 1 Durchschneidung über der Med. obl. Frosch 2 normal. Beide werden chloroformirt. 1 und 2 sind nach 6 Minuten unerregbar. 19. 11. 64. 3) Frosch 1 Durchschneidung über der Med. obl. Frosch 2 Durchschneidung unter der Med. obl. Beide werden chloroformirt. 1 ist nach 5 Min. unerregbar, 2 noch vollkommen erregbar. Nach diesen Versuchen, die mir stets dasselbe Resultat gaben so oft ich sic wiederholte, hat es offenbar den Anschein, als ob das ver- längerte Mark eine Hauptrolle bei der Vergiftung spiele. Solange das verlängerte Mark mit dem Rückenmark in Verbindung blieb, trat die Lähmung zur gewöhnlichen Zeit ein, sobald aber unterhalb des ersten sich irgendwo ein Schnitt befand, so zeigte sich innerhalb dieser Zeit keine Wirkung des Chloroforms und erst viel später war eine solche bemerkbar. Mann hätte daran denken können, dass bei der Chloro- form-Narkose im verlängerten Mark eine Art Hemmungscentrum in Erregung versetzt werde, das von dort aus alle Centren der Motilität und Sensibilität' lähme. Aber dieser Gedanke wird sofort widerlegt durch die einfache Thatsache, dass ein chloroformirter Frosch die Reflexerregbarkeit in den untern Extremitäten nicht wieder erlangt, 10 wenn man das Rückenmark zwischen dem dritten und vierten Wirbel durchschneidet. Ginge vom verlängerten Mark eine Hemmungswirkung aus, so müsste sie nach dieser Durchschneidung schwinden. Ausserdem bemerkte ich, dass Frösche, deren verlängertes Mark seit 24 Stunden zerstört war, jene sonderbare Erscheinung nicht mehr zeigten, sondern fast stets nach der gewöhnlichen Zeit der Vergiftung anheimtielen. Daher kam ich bald zu der Vermuthung, dass jene Erscheinung sich aus einer durch den Schnitt erzeugten Circulationsstörung des Blutes werde erklären lassen. In der That, als ich einem Frosch das Herz abgebunden hatte, so dass von Blutcirculation nicht mehr die Rede sein konnte und ihn dann nach Durchschneidung des Rückenmarks zwischen dem dritten und vierten Wirbel auf die gewöhnliche Weise chloroformirte, dauerte der Eintritt der Narkose länger als sonst und ein Unterschied der dazu nöthigen Zeit für die obere und untere Hälfte des Thieres war nicht zu bemerken. Durch Injection der Gefässe eines Frosches überzeugte ich mich nun; dass die Arterien des Gehirns und Rückenmarks in der obern Hälfte des verlängerten Markes eintreten, nach dem Gehirn und dem Rückenmark zu sich theilen, nachdem sie zuvor durch Vereinigung mit der der andern Seite einen Circulus arteriosus gebildet haben. Diese Gefässe sind die einzigen, welche dem Rückenmark das Blut zuführen, denn es existiren keine Arterien, die mit den Nerven in den Wirbelkanal eintreten. Nur am Ende der Wirbelsäule scheinen Anastomosen der Rückenmarksgefässe mit den Beckengefässen vor- handen zu sein. Hiernach hat nun die Erklärung jenes Phänomens keine Schwie- rigkeit mehr. Man sieht ein, dass, wenn das Rückenmark an irgend einer Stelle durchschnitten, der unterhalb des Schnitts gelegene Theil desselben vom Blutkreislauf ausgeschlossen ist. Die Durch- schneidung hat hier dieselbe Wirkung wie die Unterbindung der Gefässe, und ebenso wie diese eine Extremität vor der Einwirkung des Curare schützen kann, so hält jene den Einfluss des mit Chloro- form gesättigten Blutes von den losgetrennten Partieen des Rücken- markes ab. Indess sie schützt nicht vollständig, sobald das Chloroform anfängt sich durch Diffusion und nicht nur durch die Blutbahn zu 11 verbreiten, ergreift es auch den bis dahin verschonten Abschnitt des Markes und die Lähmung ist vollständig. Nun erklärt sich auch, wesshalb das verlängerte Mark scheinbar eine wesentliche Rolle beim Vorgang der Chloroformirung spielt. Ist der Schnitt oberhalb desselben geführt, befindet er sich also im Zu- sammenhänge mit dem Rückenmark, so sind auch die nach abwärts führenden Gefässe mit dem Herzen noch in Verbindung und erhalten Chloroform-Blut; die Lähmung tritt daher zur gewöhnlichen Zeit ein. Ist der Schnitt aber unterhalb desselben geführt, so sind auch diese Gefässe mit durchschnitten und die Narkose bleibt aus. Dagegen zeigte sich bei Thieren, an denen der Schnitt vor 24 Stunden gemacht, die Wirksamkeit des Chloroforms wieder in vollem Maasse und man muss annehmen, dass hier der Collateralkreislauf durch die Becken- gefässe sich hergestellt hatte. So wenig nun dieser Versuch eine verschiedenartige Wirkung des Chloroforms auf die Centralapparate des Nervensystems erkennen liess, um so mehr war er geeignet, die ursprüngliche Frage zu ent- scheiden, ob das Chloroform auf die sensibeln Nerven wirke, und in der That giebt er hierauf unmittelbar eine entscheidende Antwort. Ist das Rückenmark eines Frosches vom dritten bis vierten Wirbel durchschnitten, so giebt es während der Chloroformirung ein Stadium, in welchem die obere Körperhälfte vollständig unerregbar ist, die untere aber noch ganz, ungeschwächte Erregbarkeit besitzt. Das Gift ist in diesem Falle sowohl in die obere wie in die untere Extremität auf dem Wege der Circulation gelangt, aber man sieht, dass es die Functionsfähigkeit der untern Extremitäten nicht beeinträchtigt hat. Der Abschluss der untern Rückenmarkshälfte vom ßlutlauf allein genügt schon um die Sensibilität dieser Glieder zu erhalten *). Hieraus geht unverkennbar hervor, dass zu einer Zeit, in welcher das Chloroform eine vollständige Lähmung der Centralorgane des Nervensystems erzeugt hat, die sensibeln Nerven in keiner Weise J) Man kann entsprechenden Versuch auch mit Strychnin anstellen. Man findet bei massig starker Vergiftung die Reflexerregbarkeit nur in der obern, nicht aber in der untern Hälfte des Thieres erhöht. 12 davon angegriffen werden. Sie stimmen hierin mit den motorischen Nerven gänzlich überein, und es ist dies eine neue Stütze für die Lehre von der Identität beider Nervcngattungen. Bei der Anwendung des Chloroforms in der praktischen Medicin kommt es, wenn nicht ein Unglück passirt, niemals bis zu einer voll- ständigen Lähmung der Nervencentren. Vielmehr muss vor Allem das Atkemcentrum vor der Einwirkung des Giftes bewahrt bleiben. Um so weniger ist hier daran zu denken, dass die Functionsfähigkeit der peripherischen Nerven beeinträchtigt sei. Die Erfahrung hat dies auch für die motorischen Nerven bestätigt. Denn es gelingt in Fällen, wo die Athmung bereits aufgehört hat, durch electrische Reizung der Nn. phrenici Contractionen des Zwerchfells zu erzeugen. Es bleibt noch übrig den Einfluss des Chloroforms auf sensible Nerven zu prüfen, wenn dasselbe nicht auf dem Wege des Blutes, sondern direct als Dampf dieselben trifft. Das Verfahren der Ver- änderungen der Erregbarkeit hierbei zu untersuchen ist dasselbe wie bei der entsprechenden Behandlung motorischer Nerven. Zu diesem Zwecke wird das Rückenmark eines Frosches, vom verlängerten Mark getrennt, um willkührliche Bewegungen während des Versuches aus- zuschliessen, und zwar um Blutungen zu vermeiden mit einem glühen- den Messer. Alsdann wird die Art. lliaca einer Seite unterbunden und der N. Ischiadicus derselben am M. Gastrocnemius durchschnitten und nach dem Centrum hin ohne Blutverlust eine lange Strecke weit freipräparirt. Der Nerv wird nun auf die Electroden des Kästchens gelegt, und die secundäre Rolle der primären so weit genähert bis die erste Reflexzuckung eintritt. Dasselbe wiederholt man nachdem das Chloroform - Schwämmchen hineingelegt ist. Folgendes Beispiel zeigt die Veränderungen der Erregbarkeit. Grosser Frosch. Med. oll. mit glühendem Messer abgetrennt vom Rückenmark. Rechte lliaca unterbunden, rechter Ischiadicus heraus- präparirt, centrales Ende auf die Electroden gelegt. Abstand der Rollen beim Eintritt der ersten Reflexzuckung. 10 Uhr. 25 M 440 Chloroform hineingebracht. 26 M 470 27 „ 400 28 „ 300 29 „ 130 Chloroform herausgenommen. 33 „ 60 37 „ 200 39 „ 240 45 „ 281 48 „ 286 Man sieht hier dieselben Erscheinungen die unter gleichen Be- dingungen am motorischen Nerven auftreten. Zuerst bemerkt man eine kurz dauernde erhöhte Erregbarkeit, dann ein schnelles Sinken derselben und schliesslich, wenn man das Chloroform entfernt bat, wieder ein Zunehmen derselben indem sich der Nerv allrnälig erholt. Diese Versuche geben stets dasselbe Resultat und es ist daher nicht daran zu denken, die Unterschiede der Rollenentfernung auf zufällige Schwankungen in der Stromstärke oder in den Schwingungen der Feder des Apparates zu schieben. Ausserdem sind sie viel zu gross um diesen Verdacht zuzulassen. 3. Wirkung des Chloroforms auf die Nervencentra. Nach dem bisherigen Stand unserer Kenntnisse über die Functionen des Nervensystems und nach den Ergebnissen der vorangegangenen Versuche, wird Niemand Anstand nehmen, denjenigen Ort, auf welchen das Chloroform seinen Angriff richtet, in die Ganglienzellen zu ver- legen. Man könnte freilich auch der Meinung sein , dass das Chloro- form auf die centralen Nervenfasern einen lähmenden Einfluss ausübe. Aber warum wollte man annehmen, dass die Einwirkung des Giftes auf dieselben eine andre sei als auf die peripherischen Nerven? Ausserdem wissen wir ja aus Erfahrung, dass in der Chloroform- Narkose das Bewusstsein schwindet und es ist unwahrscheinlich, dass dasselbe in andern Elementartheilen als in Ganglienzellen seinen Sitz haben solle. 14 Diejenigen Ganglienzellen, welche der Untersuchung am nächsten liegen und über deren Natur wir am meisten , wenn auch nur wenig wissen, sind die des Rückenmarks. Wir wissen, dass die Vorder- hörner motorische grosse und die Hinterhörner kleine sensible Gang- lienzellen enthalten, und in neuester Zeit sind noch anderweitige histologische Unterschiede derselben aufgefunden' worden !). Es ist daher zunächst die Frage zu entscheiden, ob das Chloroform auf beide Arten von Ganglienzellen in gleicher Weise oder verschieden einwirke. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass vor Allem die sensibeln Ganglienzellen bei der Lähmung der Centren betheiligt sind. Es schwindet ja in der Narkose bei Menschen und Thieren zunächst die Sensibilität, und es bleibt keine Erinnerung an empfundene Schmerzen nachher zurück. Man kann also nicht annehmen, dass das Fehlen von Schmerzensäusserung etwa eine Folge der Lähmung motorischer Apparate sei wie bei der Curare - Vergiftung, sondern es muss eine Lähmung der sensibeln Ganglienzellen vorhanden sein. Eine andre Frage ist, ob nun die motorischen Ganglienzellen ebenfalls und in demselben Maasse diesem Einfluss des Chloroforms unterworfen sind. Schon eine einfache Erfahrung lehrt, dass hier Ausnahmen Vorkommen. Denn wir wissen, dass die Athembewegungen noch fortdauern in einem Stadium in welchem keine Reflexbewegungen auf sensible Reize mehr erzeugt werden können. Es sind also gewisse motorische Centren noch intact, wenn die sensibeln bereits vollkommen gelähmt sind. Wie verhalten sich nun die übrigen motorischen Centren in dieser Beziehung ? — Bei den vielen Versuchen, die ich im Laufe dieser Untersuchung an chloroformirten Fröschen anstellte, war mir sehr bald eine Er- scheinung aufgefallen , die für die eben aufgeworfene Frage von Be- deutung ist. Ich bemerkte sehr häufig, dass Frösche, die anscheinend ganz unerregbar waren im Beginn der Lähmung wenn die Athmung eben erst aufgehört hatte, dennoch auf gewisse Weise zur Reaction i) S. 0. Deiters, Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark des Menschen und der Säugethiere. 1865. 15 veranlasst weiden können. Kneipt man in gewöhnlicher Weise massig stark irgend eine Extremität, so sieht man kein Zeichen von Schmerz irgendwo auftreten. Reizt man aber stärker und am besten ein und dieselbe Stelle mehrere Male hintereinander, so erhält man nicht allein oft Reactionserscheinungen, sondern was dabei wichtig ist — solche, die von ganz kräftigen Bewegungen der Extremitäten begleitet sind. Dabei sieht man fast jedesmal den Frosch einen Athemzug ausführen. Dann verfällt er wieder in vollkommne Ruhe und macht keine spon- tane Bewegungen mehr. Diese heftigen Bewegungen, welche nach eben eingetretener Wirkung des Chloroforms bei starker Reizung sich zeigen, unterscheiden sich von denen im normalen Zustande dadurch, dass sie unzweckmässig und ungeschickt ausgeführt werden, aber sie deuten darauf hin, dass das Thier noch eine gewisse Herrschaft über die motorischen Apparate besitzt. Dagegen ist das Gefühl für das Maass der Bewegungen ver- loren gegangen; die sensibeln Centren empfinden weder die Lage der Glieder noch sind sie im Stande das Muskelgefühl zu vermitteln, und die Bewegungen machen daher den Eindruck als wenn die hintern Wurzeln der Rückenmarksnerven durchschnitten wären. Eine andre Erscheinung, die mit der eben angeführten überein- stimmt, bemerkte ich an Fröschen, deren verlängertes Mark bereits seit 24 Stunden vom Rückenmark getrennt war. Wurden diese Frösche chloroformirt, so gelang es mir zuweilen ein solches Stadium der Ver- giftung abzupassen, in welchem auf Reizung der untern Extremitäten keine Reflexbewegungen mehr, wohl aber noch solche auf Reizung der obern Extremitäten entstanden. In einigen solchen Fällen sah ich nun, dass wenn die obern Extremitäten gereizt wurden nicht nur in diesen sondern auch in den untern Reactionen eintraten. Ich vermuthe dass sich bei diesen Thieren ein Collateralkreislauf aus den Beckengefässen zu den untern Theilen des Markes hergestellt hatte, dass das Gift in Folge dessen nur langsam im Rückenmark von unten nach oben vordrang, so dass die untere Hälfte bereits davon ergriffen, die obere noch intact war. Dennoch konnten in den hinteren Extremitäten noch Reflexe zu Stande kommen, wenn die vordem ge- reizt wurden. 16 Dies Alles führte mich zu der Vermuthung, dass es ein Stadium der Narkose giebt, in welchem die sensibeln Ganglienzellen zwar ge- lähmt, die motorischen Ganglienzellen dagegen nicht wesentlich in ihrer Function beeinträchtigt sind. Wenn sich die Sache so verhält, erklären sich leicht die oben angeführten Erscheinungen. Ist die Vergiftung nur schwach, so wird die Leitungsfähigkeit der sensibeln Ganglienzellen in dem Maasse abnehmen oder ein gewisser Leitungs- widerstand wird in dem Maasse zunehmen, dass massig starke Erre- gungen nicht mehr wirken. Starke und häufig wiederholte Reize vermögen dagegen diesen Widerstand zu durchbrechen und ist dies geschehen so lösen sie entsprechend starke Reflexe aus, wenn die motorischen Ganglienzellen nicht afficirt sind. Auch die zweite Erscheinung erklärt sich. Hier sind die sensibeln Ganglienzellen der untern Rückenmarkshälfte gelähmt und es erscheinen keine Reflexe auf Reizung der hintern Extremitäten. Die obere Hälfte des Markes ist aber unvergiftet und sie vermittelt nicht allein Reflexe in den vordem Extremitäten, sondern sendet auch ihre Erregungen zu den nicht gelähmten motorischen Ganglienzellen der untern Hälfte und es entstehen in den Hinterbeinen Bewegungen. Ich suchte nun nach einem strengen experimentellen Beweis für die gemachte Annahme. Man sieht, dass hierzu weiter Nichts erfor- derlich ist, als einen Theil der Nervencentra vor der Einwirkung des Giftes zu schützen ohne die Continuität des Nervensystems zu stören. Das oben angegebene Mittel bestehend in der Abtrennung des ver- längerten Markes um den Collateralkreislauf von hier zu erzeugen, ist für diesen Zweck viel zu unsicher und problematisch. Durchschneidet man das Mark an einer Stelle, so kann man die unter dem Schnitt gelegene Hälfte desselben in normaler Erregbarkeit erhalten, während die obere Hälfte durch Chloroform vollständig ge- lähmt wird. Da die wesentliche Ursache dieser Erscheinung die Auf- hebung der Blutbahn in der untern Hälfte ist, so muss sie sich auch erzeugen lassen, wenn es gelingt der untern Hälfte die Blutzufuhr abzuschneiden ohne das Mark selbst zu verletzen. Ich versuchte daher dies in irgend einer Weise auszuführen. Glückt es ohne grossen Blutverlust in der Höhe des vierten 17 Wirbels die hintere Fläche des Rückenmarks freizulegen, so sieht man deutlich längs der Mittellinie eine Arterie von oben nach unten hin verlaufen. Eine eben solche befindet sich auch an den entsprechenden Stellen der vordem Fläche. Nun ziehe man vorsichtig die weiche Hirnhaut ab ohne das Mark zu verletzen und wenn dies in der ganzen Peripherie geschieht; so gelingt es meistens beide Gefässe mit zu zer reissen. Hierdurch ist wenn auch nicht vollständig, so doch zum grössten Theil der darunter liegenden Hälfte des Markes die Blut- zufuhr abgeschnitten. In derThat sah ich nun auch in einigen Fällen, in welchen mir diese Operation gelang, in einem gewissen Stadium der Vergiftung die obere Hälfte des Thieres in unerregbarem, die untere Hälfte dagegen noch in erregbarem Zustande. Hierbei konnte man zuweilen beobachten, dass auf Reizung der untren Extremitäten nicht allein in diesen, sondern auch in den obern Bewegungen auftraten wenn auch nicht mit voiikoinmner Regelmässigkeit. Reizung der obern Extremitäten dagegen war ganz wirkungslos. Die motorischen Ganglienzellen der obern Hälfte waren also nicht gelähmt, wohl aber die sensibeln. Hält man alle diese Thatsachen zusammen, so wird man berechtigt sein den Satz auszusprechen : „Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Chloro- form zuerst die sensibeln Ganglienzellen lähmt und später erst die motorischen.“ 4. Wirkung des Chloroforms auf das Blut und Allge- meinwirkung desselben. Bei der Inhalation des Chloroforms kommen die Dämpfe desselben mit dem Blute der Lungen in Berührung. Frösche nehmen auch durch die Haut das Gift ins Blut auf, wenn sie in der früher be- schriebenen Art chloroformirt werden, ln beiden Fällen bildet das Blut zunächst den Träger des Giftes und befördert es zu den Centren des Nervensystems. Es war daher von Interesse die Wirkung des Chloroforms auf das Blut isolirt zu beobachten. Schüttelt man Chloroform mit defibrinirtem Rindsblut, so mischen sich beide Flüssigkeiten fast gar nicht. Das Chloroform setzt sich wegen seiner Schwere zu Boden und man merkt keine wesentliche 18 Veränderung an beiden Flüssigkeiten. Ich versuchte daher das Chloro- form künstlich in ähnlicher Weise auf das Blut wirken zu lassen wie es bei der Einathmung geschieht, und zwar in folgender Weise 1). Aus einem Gasometer strömte Luft durch ein kleines Wasch- fläschchen, an dessen Boden sich etwas Chloroform befand ; die so mit Chloroform-Dämpfen erfüllte Luft wurde in einen hohen defibrinirtes Rindsblut enthaltenden Cylinder eingeleitet. Schon nach wenigen Minu- ten wurde das Blut heller und durchsichtiger und nachdem eine Zeitlang mit dem Durchleiten fortgefahren war. hatte das Blut jene bekannte Lackfarbe angenommen wie sie bei Auflösung der Blutkörperchen stets auftritt. Unter dem Mikroskop konnte man keine normalen Blut- körperchen mehr in der Flüssigkeit unterscheiden, vielmehr hatte dieselbe eine gleichmässig rothe Färbung. Wenn man den Versuch mit Hundeblut anstellt, so gelingt es leicht aus einem Tropfen der so bereiteten Lösung unter dem Mikroskop die schönsten Krystalle von Hämoglobin anschiessen zu sehb’n. Mir scheint dies eine sehr bequeme Methode zur Darstellung des Hämo- zu sein. Die geringe Menge Chloroform-Dampf, die ins Blut hierbei eingeleitet wird, verflüchtigt sich bereits an der Luft. Nachdem ich diesen Versuch angestellt hatte, erschien ein Aufsatz von Böttcher 2) über denselben Gegenstand. Derselbe beobachtete das Auflösen der Blutkörperchen und die Krystallisation an einem Tropfen Blut unter dem Mikroskop, der Chloroform - Dämpfen ausge- setzt war. Böttcher glaubte, dieser Vorgang beruhe darauf, dass der im Blute enthaltene O ozonisirt werde und dass das Ozon die Lösung der Blutkörperchen bewirke. Ich stellte daher den vorhin angegebenen Versuch so an, dass ich statt Luft II durch das Blut leitete und dann, ohne dass Luft mit eindrang, das Chloroform-Fläsch- chen einschaltete. Auch hier wurde das Blut sehr bald lackfarben. Der in den Blutkörperchen selbst enthaltene O könnte ferner zur Bildung des fraglichen Ozons dienen. Ich nahm nun statt H ein >) TJnterdess ist die Auflösung von rotlien BlutkÖrperclien durch Chloroform von Bötticher und von L. Hermann beschrieben worden, s. u. a) Ueber die Wirkung des Chloroforms auf das Blut. Virch. Arch. XXXII 12t>. 19 Gas, das den 0 der Körperchen austreibt, das CO und nachdem das Blut gehöiig kirschroth geworden und vollständig von einer Atmos- phäre CO bedeckt war, wurde das Chloroform-Fläschchen eingeschaltet ohne dass Luft eindrang. Sehr bald zeigte sich auch in diesem Falle der vorhin beschriebene Erfolg. Mir scheint daher, dass die Auflösung des Hämoglobin’s im Serum in diesem Versuche erzeugt wird durch eine directe Einwirkung des absorbirten Chloroform-Dampfes auf die Blutkörperchen und nicht durch Ozon. Ob dieser Vorgang der Auflösung ein rein chemischer ist, oder ob er mit den Lebenseigenschaften der Blutkörperchen in Beziehung steht, habe ich nicht ermitteln können. Es war von Interesse nachzusehen, ob bei Inhalationen von Chloroform die Blutkörperchen in ähnlicher Weise verändert werden. Ist dies der Fall, so muss dieses durch den Harn ausgeschieden werden und zwar wie bekannt als Gallenfarbstoff. Herr Prof. O. Weber hatte die Güte, mir Harn von innerlich gesunden Patienten, die einer Operation wegen chloroformirt wurden, zu überlassen. Derselbe war gleich nach dem Erwachen aus der Narkose entleert und wurde auf Gallenfarbstoff geprüft. Es gelang mir mehrere Male die deutlichste Reaction auf Zusatz von N05 her- vorzurufen. • Ich legte mir zuvörderst die Frage vor, in wie fern diese Wirkung des Chloroforms auf die Blutkörperchen eine Rolle bei der Vergiftung das Nervensystem spiele. Mit andern Worten, es war zu entscheiden ob das Chloroform erst im Blute eine Substanz bilde, welche mittelbar die Lähmung der Centren erzeugt oder ob es direct als solches dieselben angreife. Einem Frosch wurde die Aorta angeschnitten, so dass er sich vollständig verblutete, und dann in der gewöhnlichen Weise chloro- formirt. Die Wirkung trat wie gewöhnlich ein, nur dauerte es be- deutend länger bis sie vollständig war, mehr als noch einmal so lang wie bei einem unversehrten Frosch. Es ist klar dass hier das Gift auf dem langsamem Wege der Diffusion eindringen muss. In diesem Falle konnte immerhin noch der in den Gefässen zurückgebliebene Rest von Blut die Vermittlung zwischen Chloroform und Ganglienzellen 20 übernommen haben. Um auch diesen zu entfernen, setzte ich eine Caniile in das peripherische Ende einer Aorta des Frosches, verband sie mit einem senkrechten U hohen Rohr, das in einen Trichter endete und füllte diesen mit einer O,5°/0 NaCl Lösung-. Durch Nachfüllen wurde nun diese Flüssigkeit so lange durch das Gefässsystem des Thieres hindurchgetrieben bis die aus dem centralen Ende der Aorta heraus- fliessende Masse keine Blutkörperchen mehr enthielt Es entstehen dabei bekanntlich weder Convulsionen noch Hydrops wie bei reinem HO, auch schlägt das Herz in fast ungestörtem Rhythmus weiter. Das Thier selbst ist nachher noch 2 Stunden lang ganz munter. Ein so von Blut befreiter Frosch zeigt nun dieselben Erscheinungen der Chloroform-Narkose wie ein normaler. Nur dauert es hier wiederum länger bis die Wirkung eintritt, wreil das Gift sich hier ebenfalls durch Diffusion verbreitet. Ich habe auch gesehen, dass solche Frösche wenn sie nicht zu stark vergiftet waren, sich wieder vollkommen erholten *). Man kann also hiernach dem Blute keine wesentliche Rolle bei der Wirkung des Chloroforms zuschreiben. Es dient dabei nur als Träger des Giftes, und der Einfluss auf die Blutkörperchen ist nur nebensächlicher Natur. Das Chloroform wirkt vielmehr direct als solches auf die Ganglienzellen der Nervencentren ein. Die Art und Weise, in welcher das Chloroform auf die Gang- lienzellen einwirkt, ist ganz analog dem Vorgänge, wenn der Chloro- form-Dampf direct in die Nervenstämme eindringt. Auch hier ist ein Stadium erhöhter Erregbarkeit im Anfang der Wirkung vorhanden, das sich in der fast stets eintretenden Aufregung beim Chloroformiren kundgiebt. Dann folgt sehr bald das Stadium der Lähmung, das bei nicht zu starker Vergiftung einer allmäligen Erholung Platz macht. Der Unterschied beider Vorgänge liegt nur darin, dass die Ganglien- zelle weit empfindlicher ist als die Nervenfaser. Sie erliegt dem Ein- fluss des Giftes bereits bei demjenigen Chloroform-Gehalt des Blutes, i) Man kann denselben Versuch auch mit Strychnin anstellen, indem man in den Trichter ein Paar Tropfen davon einbringt; die Reflexzuckungen verschwinden wieder sobald man mit Kali-Lösung weiter auswäscht. 21 bei dem an der Nervenfaser noch keine Verminderung der Erregbar- barkei t naclizu weisen ist. Nach den Untersuchungen meines Freundes L. Hermann *) be- ruht die Wirkung des Chloroforms und der ihm ähnlichen Gifte auf die Nervencentra wahrscheinlich darauf, dass dieselben die EigemSchmr haben, Protagon zu lösen. Ob dies auch auf die Nervenfaser zu be- ziehen ist, hängt davon ab, ob Protagon einen wesentlichen Bestand- theil derselben bildet. In Bezug hierauf will ich zum Schluss noch eine Beobachtung über die chemische Einwirkung des Chloroforms auf die Nervenfaser erwähnen. Man betrachte frische Nervenfasern vom Frosche ohne Zusatz von Flüssigkeit unter dem Mikroskop innerhalb der Recklinghausen’- schen feuchten Kammer und bringe dann ein mit Chloroform ge- tränktes Schwämmchen in diesen Raum, sofort sieht man, dass auf der homogenen Faser kleine ringförmige Flecken erscheinen, die nach einiger Zeit wieder verschwinden. Bald erkannte ich, dass diese weiter nichts sind als Chloroformtröpfchen, die sich auf den Faser niederschlagen. Da ich aber an andern Geweben, Muskelfaser und Bindegewebe Nichts derartiges wahrnahm, wenn ich sie in derselben Weise behandelte, so musste in den Nervenfasern eine Substanz vor- handen sein, welche diese Erscheinung veranlasste. Ich ging nun eine Reihe von Ivetten und andern Stoffen durch, welche möglicher- weise die Ursache sein konnten und fand, dass unter diesen nur das Cholesterin diese Eigenschaft besass. Ein Cholesterinplättchen bedeckt sich innerhalb der mit Chloroform-Dämpfen erfüllten Kammer mit den- selben kleinen Tröpfchen bevor es ganz zerfliesst. Es scheint demnach das Cholesterin der Nervenfaser zunächst bethei- ligt zu sein bei der chemischen Einwirkung des Chloroforms auf dieselbe. l) Ueber die Wirkungsweise einer Gruppe von Giften in Reichert’s und du Bois-Keymond’s Archiv. 1866. p. 27.