Aus dem I.VIII. Bde. d. Sitzb. d. k. Akad. d. Wissensch. II. Abth. Juli-Heft. Jahrg. 1868. Über asymmetrische Strahlenbrechung im menschlichen Auge. Von Ernst Brücke, wirklichem Mityliede der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. (Mit i Tafel.) (Vorgelegt in der Sitzung am 23. Juli 1868.) Es ist eine Malern und Architekten allgemein bekannte That- sache, daß von verschiedenen Farben, welche in flachen Tinten auf eine und dieselbe Ebene aulgetragen sind, die einen mehr vorzu- springen, die andern mehr zurückzutreten scheinen. Besonders auf- fällig ist diese Täuschung, wenn man aus einiger Entfernung senk- recht auf die bemalte Fläche sieht. Die Farben, welche Strahlen von größerer Schwingungsdauer aussenden, sind, abgesehen von den Täuschungen, die durch den Grad der Sättigung und der Helligkeit entstehen können (vergleiche meine Physiologie der Farben § 17), vorspringend gegen solche, welche Strahlen von kleinerer Schwin- gungsdauer aussenden. Donders und ich sind, ohne daß wir ein- ander unsere Gedanken darüber mitgetheilt hätten, zu derselben naheliegenden Erklärung dieser Erscheinung gelangt. Diese Erklä- rung ist folgende: Wenn wir unsere Augen für ein in der Entfer- nung D befindliches blaues Feld accommodirt haben, so vereinigen sich die von einem daneben befindlichen rothen Felde kommenden rothen Strahlen nicht in derNetzhaut, sondern vermöge ihrer grösseren Schwingungsdauer hinter der Netzhaut. Sollen sie sich in der Netz- haut vereinigen, so müssen die Augen etwas stärker für die Nähe accommodirt werden. Da nun bei dem steten Wechsel, welchen die Aeeommodation mit der wechselnden Entfernung der Gegenstände erleidet, der Accommodationszustand zu einem derFactoren erwach- sen ist, nach welchen wir die Entfernung der Gegenstände von uns beurtheilen, so empfinden wir das Roth näher als das Blau, obgleich es mit ihm auf einer Ebene liegt. Es hat mir seither mehrmals geschienen, als ob die Täuschung an Deutlichkeit ahnehme, wenn ich ein Auge schließe. Wie kann das Zusammenwirken beider Augen zur Steigerung der Illusion bei- Brücke. tragen? Wir schätzen die Entfernung eines Objecfes nach dem Grade der Convergenz der Gesichtslinien bei seiner Fixation. Sollen wir also aus dem Zusammenwirken beider Augen das Roth näher empfinden als das mit ihm auf gleicher Ebene liegende Blau oder Grün , so muß es mit größerem Convergenzwinkel der Gesichtslinien einfach gesehen werden, als die letzteren. Ist dies der Fall, so muß jedem einzelnen Auge das Roth im Sehfelde mehr nach der Nasenseite zu liegend erscheinen, als das in derselben Vertikalen befindliche Blau oder Grün. Es muß also, mit dem rechten Auge gesehen, mehr nach links liegen und mit dem linken gesehen, mehr nach rechts. Ich klebte deßhalb rothes Papier, welches sich bei der Unter- suchung mit dem Prisma als nahezu monochromatisch erwiesen hatte, theils mit ultramarinblauem, theils mit grünem zusammen und schnitt daraus Streifen, so daß die Schnittränder die Grenzlinien unter rech- ten Winkeln kreuzten. Solche Streifen legte ich auf einen schwarzen Tisch und blickte von oben darauf, so daß die Schnittränder auf der Visirebene senk- recht standen. Ich konnte aber, wenn ich abwechselnd das rechte und das linke Auge schloß, anfangs nichts Auffälliges wahrnehmen. Da ich aber wußte, daß es sich hier jedenfalls um sehr kleine Größen handelt, welche leicht übersehen werden können, so beruhigte ich mich hierbei nicht. Es wird vielleicht nicht überflüssig sein, durch ein Beispiel ins Gedächtniß zurückzurufen, wie kleine Größen hier noch wirksam auftreten können. Nennen wir die scheinbare Verschiebung, welche das Roth für jedes der beiden Augen erfährt d und d die Differenz, welche diese Verschiebung in unserer Schätzung der Entfernung der beiden Far- ben von uns hervorbringen muß, ferner die halbe Entfernung der Knotenpunkte beider Augen von einander und p den Abstand des Ob- jectes von der Mitte der Verbindungslinie der Knotenpunkte beider Augen, die wir uns beide als gleich weit vom Objecte entfernt ver- stellen; so besteht die Gleichung d = £ '/• Über asymmetrische Strahlenbrechung im menschlichen Auge. Die Größe q ist bei mir = 28 Mm, p sei = 1000 Mm und d — 0.28 Mm, dann ist d = 10 Mra. Also das Roth müsste entsprechend den gewöhnlichen stereoscopisehen Constructionen um 10 Millimeter gegen das Blau oder Grün vorspringen, und docli Aviirde unter den- selben Voraussetzungen die seitliche Verschiebung kaum direct durch die Ungleichheit des Schnittrandes wahrgenommen werden, denn der ihr entsprechende Gesichtswinkel würde weniger als eine Minute (57 Secunden) betragen. Nach Hooke ist unter Hunderten kaum Einer, der zwei Sterne, deren scheinbare Entfernung 60 Secunden beträgt, als solche unterscheidet. Das beste von E. H. Weber unter- suchte Auge konnte eben noch zwei weiße Striche unterscheiden, deren Mittellinien 73 Secunden von einander entfernt waren. Helm- holtz konnte diesen Werth für sein Auge durch stärkere Beleuch- tung und unter besonders günstigen Umständen auf 64 Secunden herabdrücken*). Das erste positive Resultat erhielt ich auf folgende Weise: Ich klebte ein nahezu monochromatisch rothes, sehr lebhaft gefärbtes aber glanzloses Papier in der Länge von 34 Millimetern (bei späteren Versuchen auch in geringeren Längen bis zu 4 Millimetern abwärts) auf ein gleichfalls glanzloses ultramarinblaues. Hieraus schnitt ich mit einer großen und scharfen Scheere einen Streifen von 1,2 Millimeter Breite (bei späteren Versuchen noch schmälere) und 120 Millimeter Länge, so daß sein mittlerer Theil roth, seine Enden blau und seine Begrenzungen durchaus geradlinig waren. Diesen befestigte ich ver- tical auf einem schwarzen Grunde, so daß er kräftig beleuchtet war, während von dem schwarzen Grunde keine irgend wie beträchtliche Lichtmenge in mein Auge reflectirt wurde, und betrachtete ihn dann in einer Entfernung von 2 Metern mit meinem rechten Auge. Nun erschien mir das Roth scharf begrenzt, das Blau mit einem schwachen Hofe umgeben und dabei in der Weise gegen das Roth verschoben, daß es dasselbe nach rechts zu überragte, wie dies in Fig. 1 darge- stellt ist. Beim Beobachten mit dem linken Auge mußte ich mich bis auf 1,6 Meter nähern, um das Roth scharf zu sehen. Ich hatte dann die analoge Erscheinung; nur war die Verschiebung des Blau nach links beziehungsweise das Roth nach rechts geringer, nur eben und kaum merklich. *) Helmholtz physiologische Optik. S. 216. B r ii c k e. Näherte ich mich mit meinem rechten Auge bis auf 34 Centi- meter, so sah ich das Blau scharf begrenzt, das Roth hatte sich etwas verbreitert und überragte das Blau an der linken Seite, während es an der Rechten mit ihm Linie hielt. Es ist dies in Fig. 2 dar- gestellt. Mit dem linken Auge mußte ich mich auf 28 Centimeter nähern, um das Blau scharf, das Roth um etwas verbreitert zu sehen. Es überragte dann das Blau, wie mir schien, nach rechts etwas mehr als nach links, doch war der Unterschied sehr gering. Analoge Resultate erhielt ich, als ich dieselben Versuche mit einem roth und grünen, statt mit einem roth und blauen Streifen an- stellte. Es war klar, daß bei einem solchen Verhalten meiner beiden Augen mir im binoclären Sehen das Roth näher erscheinen mußte als das Blau und das Grün: denn die Convergenzwinkel der Gesichts- linien, bei welchen sich die rothen Bilder im Sehfelde deckten, waren größer als diejenigen, bei welchen unter übrigens gleichen Umstän- den für die blauen und die grünen Deckung eintrat. Es zeigte sich aber bald, daß hierin nicht der allgemeine, für die große Mehrzahl der Menschen gültige Grund für das Vorspringen der rothen Farbe liegt: denn ein junger Mann, der von Jugend auf nur mit einem Auge gesehen hatte, indem er nur sein eines Auge zum deutlichen Unterscheiden der Gegenstände gebrauchen konnte, erklärte, daß er Roth sehr stark vorspringend sehe. Es fand sich außerdem unter 10 Individuen, deren Augen ich in derselben Weise wie meine eigenen untersuchte, nur noch Eines, bei dem beide Augen die Verschiebung der Farben in demselben Sinne sahen, wie ich sie beobachtet hatte; drei andere bemerkten sie auf einem Auge, die übrigen fanden entweder gar keine Abweichung, oder solche im entgegengesetzten Sinne; und doch sahen Alle, mit Ausnahme von Zweien, das Roth vorspringend. Von diesen Zweien fand der Eine mit jedem von beiden Augen eine Abweichung, die der- jenigen, welche ich an mir selbst beobachtet hatte, entgegengesetzt war; der andere, ein kurzsichtiger junger Mann, fand gar keine Ab- weichung. Wenn also auch der Einfluß der uns beschäftigenden Er- scheinung, da wo sie vorhanden ist, nicht geleugnet werden kann; so müssen wir doch bei der früher von Donders und von mir gege- benen Erklärung stehen bleiben, wenn wir gefragt werden, weßhalb Über asymmetrische Strahlenbrechung im menschlichen Auge. die meisten Menschen Roth vorspringend, Blau und Grün zurück- tretend sehen. Es lag nahe, wie mit dem verticalen, so auch mit dem horizon- talen Streifen in den einzelnen Augen nach Abweichungen zu suchen, und so habe ich folgende Tabelle zusammengestellt, in der dieZeichen -f- und — folgende Bedeutung haben. Vertical. + Das Roth ist gegen das Blau so verschoben, daß es nach der Seite des geschlossenen Auges vorspringt, beziehungsAveise vom Blau nach der Seite des offenen Auges überragt wird, letzteres also, wenn mit dem rechten Auge beobachtet wird, für den Beobachter nach rechts, wenn mit dem linken Auge beobachtet wird, für den Beobachter nach links. — bedeutet Verschiebung des Roth im entgegengesetzten Sinne. Horizontal. + bedeutet Verschiebung des Roth nach aufwärts, beziehungs- weise das Blau nach abwärts. — bedeutet Verschiebung des Roth nach abwärts, beziehungs- weise das Blau nach aufwärts. R. A. bedeutet rechtes Auge, L. A. linkes Auge. Die Beobachter X und XI konnten mit horizontalem Streifen nicht mehr untersucht werden, da sie inzwischen abgereist waren. Die entsprechenden Rubriken sind deßhalb leer gelassen. Beobachter Vertical Horizontal R. A. L. A. R. A. L. A. 1 + + + • + II + + — + III — — + 0 IV 0 0 0 — V — — 0 — VI 0 0 0 + VII 0 + 0 0 VIII + 0 + + IX — + 0 0 X — — XI 0 0 Brücke. Worin ist der Grund der hier beobachteten Verschiebungen zu suchen? Es ist klar, daß sie nicht eintreten könnten, wenn die brechenden Flächen sämmtlich um eine gemeinschaftliche Axe centrirt wären, und wenn diese mit der Gesichtslinie zusammenfiele, die chromatische Abweichung eines Auges möchte dann wie immer groß sein. Alle Strahlen, die von einem fixirten Punkte ausgehen, müssten, da er selbst in der Axe liegen würde, so gebrochen werden, daß sie in allen Abschnitten ihres Weges um die Axe symmetrisch liegen. Niemals könnte, wie in unseren Beobachtungen, eine je nach der Farbe verschiedene seitliche Verschiebung im directen Sehen statt- finden. Nun hat Helmholtz nachgewiesen, daß die Gesichtslinie nicht mit derjenigen Geraden zusammenfällt, um welche die Brechungen am meisten symmetrisch stattfinden: sie wich in den von ihm unter- suchten Augen in horizontaler Projection 3° 47' bis 8° 12' und zwar stets nach der Nasenseite ab. (Physiologische Optik, S. 86.) Hierdurch können kleine seitliche Verschiebungen der Farben gegen einander hervorgebracht werden; aber eine einfache Betrach- tung lehrt, dass sich auf dieselben die von uns beobachteten Er- scheinungen in ihrer Totalität nicht zurückführen lassen. In allen Augen, die bis jetzt untersucht worden sind, findet die chromatische Abweichung in demselben Sinne statt, und es ist auch kein menschliches Auge denkbar, in welchem sie im entgegen- gesetzten Sinne statt fände. Da alle menschlichen Augen nach dem- selben Schema und aus denselben Materialien gebaut sind, so müsste also, da nach Helmholtz die Gesichtslinie von der Augenaxe immer nach derselben Seite (Nasenseite) abweicht, auch die seitliche Ver- schiebung immer in demselben Sinne stattfinden, was bei unseren Versuchen keineswegs beobachtet wurde. Donders untersuchte in einer großen Anzahl von Augen den Winkel, welchen die Gesichtslinie mit der, nach Helmholtz mit der sogenannten Augenaxe nahe zusammenfallenden Hornhautaxe machte. Er fand ihn bei hypermetropischen Augen am größten, bei myopischen am kleinsten, und sah selbst in einzelnen Fällen sehr großer Kurz- sichtigkeit die Gesichtslinie von der Hornhautaxe um ein weniges nach der Schläfenseite hin abweichen. In unseren Versuchen ließ sich kein irgendwie gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen der Über asymmetrische Strahlenbrechung im menschlichen Auge. 7 Sehweite einerseits und dem Grade und dem Sinne der Farbenver- schiebung andererseits herausfinden. Es ist ferner klar, daß die Abweichungen, welche Donders in seinem Werke on the anomalies of accommodation and refraction of the eye, London 1864 (deutsch von Dr. Otto Becker, Wien 1866), unter den Namen regulär und irregulär astigmatime speciell be- handelt, von den von uns beobachteten Erscheinungen keine Rechen- schaft geben. Dieselben müssen vielmehr, in soweit sie nicht von der Abweichung der Gesichtslinie von der sogenannten Augenaxe ab- hängen, darauf zurückgeführt werden, daß dieAxen der als Rotations- flächen betrachteten brechenden Flächen des Auges nicht in eine gerade Linie zusammenfallen, oder, wenn man dem regulären Astig- matismus Rechnung trägt, ein solches Zusammenfallen der Axen der Durchschnitte der brechenden Flächen für den horizontalen, bezie- hungsweise für den verticalen Durchschnitt vermißt wird. Schon Helmh o 11 z wurde durch seine, an den von der vorderen Cornealfläche und den beiden Linsenoberflächen zurückgeworfenen Spiegelbildern gemachten Messungen zu dem Schlüsse geführt, daß „das menschliche Auge nicht genau centrirt sei“ (Physiologische Optik. S. 86). Die thatsächlieh hervorgebrachten Verschiebungen müssen aber für viele zum Sehen und Unterscheiden ganz taugliche Augen recht bedeutend sein; denn wir nehmen ja in unseren Versuchen nicht die Verschiebung selbst wahr, sondern nur den Unterschied in der Ver- schiebung zweier Bilder, von denen das eine von rothem, das andere von blauem Lichte gebildet wird; und dieser Unterschied kann nur ein verhältnißmäßig kleiner Bruchtheil der ganzen Verschiebung sein, wenn ich diese definire als die Abweichung jedes Bildes von der Stelle, welche es einnehmen würde, wenn die brechenden Ober- flächen des Auges vollkommen centrirt wären und die Gesichtslinie mit ihrer gemeinsamen Axe zusammenfiele. Soll die beobachtete Verschiebung gemessen werden, so wird man dies für practische Zwecke am besten thun, indem man" ein Prisma bestimmt, durch welches sie gerade aufgehoben wird. Man kann sich hierzu eines Prismas von bekanntem Winkel, z. B. 6 , bedienen, das man in einer Hülse befestigt, drehbar um eine Axe, welche mit beiden brechenden Flächen gleiche Winkel macht und unter 90 gegen die brechende Kante gestellt ist. Man dreht nun das 8 Brücke. Über asymmetrische Strahlenbrechung im menschlichen Auge. Prisma vor dem Auge so lange, bis die Farben mit einander genau Linie halten und zählt die Anzahl der Grade, indem man die Stellung mit 0 bezeichnet, hei welcher die brechende Kante unter 90° gegen den beobachteten Papierstreifen gestellt ist. Hieraus leitet man (nach der Formel tg t/2 = siny tg Va a, in der ’p den zu suchenden Win- kel, a den Winkel des Versuchsprimas und