ACUTE GARBDL-IERGimUG. VON Dr. AUGUST CAILLE, KINDEBARZT AM DEUTSCHEN DISPENSABT DBB STADT NEW TOBE. Aus der „NEW YORKER MEDIZINISCHE PRESSE,“ März 1886. Aus der „New-Yorker Medizinische Presse,“ März 1886. S Acute Carbol-Vergiftung. Von Dr. August Caille, Kinderarzt am Deutschen Dispensary der Stadt New York* Vortrag, gSEaiten im Verein der Aerzte des Deutschen Dispensary, am 11. Dezember 1885. Unter acuter Carboivergiftung im Sinne dieser Mittheilung verstehe ich die ätzende und toxische Wirkung der Carbolsäure, die beim Ver- schlucken derselben resultirt, nicht den acuten Carbolismus (die toxische Wirkung in Folge von Resorption). Fünf Fälle dieser Art hatte ich Gelegenheit zu beobachten, die fünfte und zuletzt beobachtete Phenol- Vergiftung kommt hier nicht in Betracht, da der Patient, ein 35jäh- riger Tabetiker durch einen Esslöffelvoll der Säure fast augenblick- lich getödtet wurde und natürlich von einer Hülfeleistung bei ihm nicht die Rede war. Die vier factisch behandelten Fälle (2 junge Kinder und 2 Erwachsene) gedenke ich Ihnen unter Vermeidung jeder unwesentlichen Beigabe darzustellen, wobei ich speziell über die Frage einer rationellen Behandlung Ihr Interesse wachrufen möchte. I. Fall. Ein Kind von 2 £ Jahren spielte in der Wohnstube mit-Arzneiflaschen. Die Mutter sah zu, wie das Kind eine Flasche an den Mund setzte und austrank. Alsbald fiel es mit einem lauten Schrei zu Boden und bekam Convulsionen. Die Flasche enthielt 15 gramm concentrirter Carbolsäure, welche an demselben Tage von einem Collegen zum äusserlichen Gebrauch verordnet worden waren. Fünfzehn Minuten nach der Einnahme des Giftes war ich zur Stelle. Das Kind sah aus wie eine Leiche, die Convulsionen hatten sistirt, die Extremitäten und der Unterkiefer hingen schlaff herab; Puls sehr rapid, Athmung ober- flächlich und rasch, Pupillen gross, kein Reflex beim Betasten der Cornea: ein copiöser Stuhl war abgegangen, der Mund war mit Schleim gefüllt, an der Mund- und Rachenschleimhaut zeigte sich die Aetz- wirkung deutlich. Ich sah, dass wohl jeder Eingriff nutzlos sein würde, reinigte aber demungeachtet den Mund und führte einen englischen Catheter in den Magen, behufs Ausspülung mit einer Lösung von Natr. sulfur. Um keine Zeit zu verlieren und in Ermangelung eines geeigneten Apparates nahm ich die Lösung in den Mund und spritzte dieselbe durch den Catheter in den Magen. Dann legte ich das Kind auf die Seite, drückte vorsichtig auf den Bauch und beförderte die Flüssigkeit nebst etwas Mageninhalt auf diese Weise wieder heraus. Dieses Manöver wiederholte ich drei oder vier Mal und war über- zeugt, dast die Ausspülung des Magens gelungen war. Auffallend war mir der Umstand, dass eine Brechbewegung während dieser Manipu* lation nicht ein trat. Der Hals des Kindes wurde mit einer Eis- compresse umgeben, der Körper in warmen Flanell ein gepackt und Milchpunsch mit Kreide verordnet. Nach etwa einer Stunde kam das 2 Kind zum Bewusstsein, schluckte die verordnete Mixtur, wurde jedoch bald wieder comatösund starb 7 Stunden später unter den Erscheinungen von Lungenoedem. Auf Carbolkarn wurde nicht vigilirt und die Section nicht zugegeben, II. Fall. Eine schwer kranke Frau von 30 Jahren, welcher ich am Tage vorher den Uterus wegen Retentio Placentae aus- geräumt hatte; nahm aus Versehen, in der Nacht, einen Esslöffel voll concentrirter Carbolsäure. Sie bemerkte ihren Irrthum und trank sofort ein grösseres Quantum Milch. Bald darauf verlor sie das Bewusstsein. Ich fand sie comatös, leichenblass, die Haut war kühl, die Athmung langsam und röchelnd, der Puls langsam und klein, die Pupillen weit, der Unterkiefer fixirt. Ich führte eine grosse Schlundsonde durch die Nase in den Magen und trichterte 6 Tassen Kreidewasser ein. Da bei der Senkung des Trichters keine Flüssigkeit empor kam, goss ich noch 4 Tassen Kreidewasser nach, und versuchte alle die bekannten Kunst- griffe die verstopfte Schlundsonde patent zu machen und den Magen zu entleeren, aber ohne Erfolg. Darauf entfernte ich die Bölire und applicirte diverse Brechreize, — auch das ging nicht; da fiel mir die Apomorphin-Wirkung ein, und in etwa 15 Minuten hatte mir der Mann der Patientin aus einer nahen Apotheke 1 Gran Apomorphin in Lösung herbeigeholt, wovon Gran und bald darauf noch Gran subcutan ein- gespritzt wurden. Binnen 10 Minuten stellte sich heftiges Erbrechen ein. Der Magen wurde ausgiebig entleert und durch abermaliges Verschlucken von Kreidewasser gut ausgespült. Die Frau war mittlerweile zum Bewusst- sein gekommen und begann unaufhörlich zu stöhnen und zu klagen, wobei sie sich nach dem Halse griff und nach dem Magen deutete. Dann trat ein bedenklicher Collaps ein, die Patientin verlor das Bewusst- sein abermals, der Puls wurde enorm langsam und kaum fühlbar. Ith vermuthete in diesen Erscheinungen eine Apomorphin-Wirkung und bemühte mich, die Haut mit Aether und Cognac zu unterminiren, was von sehr gutem Erfolge begleitet war. Am nächsten Tage war der Hals in seinem ganzen Umfange vergrössert, der Bachen oedematös geschwollen und an vielen Stellen weisslich gefleckt. Das Schlucken war unmöglich, der Harn charakteristisch gefärbt. Am 2, Tage war das Schlucken möglich, aber beschwerlich; die Patientin erhielt Milch- punsch mit Kreide, kalte Milch, Condensed milk, Kahm, süsse Butter, Schleim, Eiweiss und Eis, und konnte nach drei Wochen das Bett verlassen. Im Verlauf der folgenden 9 Monate traten keinerlei Schluckbeschwer- den auf, noch stiess die öfters eingeführte Schlundsonde auf ein Hinderniss. III. Fall. Ein Kind von 3 Jahren soll nach dem Bericht von Augenzeugen etwa 6 Drachmen concentrirte Carbolsäure ver- schluckt haben. Convulsionen traten nicht auf, sonst war das Krank- heitsbild, die Hülfeleistung und der Ausgang genau wie im ersten Falle. IV. Fall. Patient war ein Bierwirth, dessen Hausarzt ihm eine Hustenmedizin, und 90 g. concentrirte Carbolsäure für äusser- lichen Gebrauch verordnet hatte. Der Mann, zu Hause angelangt und begierig, die Wirkung der neuen Medizin kennen zu lernen, ging in die Küche, suchte sich einen Esslöffel von grossem Kaliber und goss sich ein. Als die Flüssigkeit über die Zunge rollte, bemerkte er seinen Irrthum und versuchte den Schluckakt 3 zu inliibiren, was ihm aber nicht gelang. Die Säure schlüpfte in die Tiefe; der erschrockene Mann tliat das Beste, was unter den Umständen zu thun war, er griff nach der Salatölflasche, die etwa 1 Pint enthielt und schickte das Oel der Säure nach. Bei meiner Ankunft ging er in grosser Aufregung im Zimmer umher, seine Sprache war heiser, Puls klein und rapid, er klagte über Brennen in der Magengrube — sonst nichts. Er hatte vor meiner Ankunft ein Pint Oel und ein Quart Milch getrunken. Ich entschloss mich, die Schlundsonde vorläufig nicht in Thätigkeit zu setzen und liess ihn noch ein Quart Natron sulfuricum in Lösung trinken und dann ein Pint warmes Wasser mit jii Pulvis Ipeca- cuanhae.; sodann warmes Wasser mit Pulvis Sinapis, und endlich noch einmal das Ipecac.-Getränk. Das gewünschte Erbrechen liess auf sich warten. Mittlerweile war Apomorphin herbeigebracht worden; ich applicirte | Gran subcutan. Nach 8 Minuten trat Erbrechen ein und hielt 2 Stunden an ohne Collaps-Erscheinungen. Das Erbrochene roch nach Carbol; das Oel schwamm obenauf wie die Fettaugen auf einer sogenannten kräftigen Suppe. Der Patient litt heftige Magenschmer- zen, die sich auf Eis, Morphium und Eisblase besserten. Er erhielt die- selbe Nahrung wie die Frau und war nach 10 Tagen wohl. Carbol- Harn war constatirt, ebenfalls transitorische Albuminurie. Seitdem sind 7 Monate verflossen und bis auf den heutigen Tag keine Schluckbeschwerden beobachtet worden. Nachdem ich Ihnen die beobachteten Fälle vergegenwärtigt habe, sei mir eine Hervorhebung weniger Punkte gestattet. Die concentrirte Carbolsäure ist uns als energisches Aetzmittel wohl- bekannt; selbst starke Lösungen können Necrose thierische Gewebe verursachen. Trotzdem habe ich die Ueberzeugung, dass unter besonderen Um- ständen die Aetzwirkung der Säure — wenn sie verschluckt wird, — nicht zur Geltung kommt. Die von mir mitgetheilten Fälle Erwachsener, sprechen für diese Ansicht und als weiteren Beleg citire ich die folgenden Fälle aus der mir zugänglichen Literatur: In der letzten Ausgabe des U. S. Dispensatory wird eines günstig ver- laufenden Falles Erwähnung gethan nach Verschlucken von 45 gramm concentrirter Carbolsäure. Davidson (Med. Times and Gazette, 1875) berichtet den Fall einer Magd, die in selbstmörderischer Absicht vier Unzen Carbolsäure zu sich nahm. Sie wurde bald bewusstlos und in diesem Zustand wurde ihr der Magen mit warmem Wasser ausgewaschen und zum Schluss ein Pint Oleum Olivarum eingetrichtert. Sie genas vollkommen. Mosler (Deutsches Archiv f. Klin. Med., 1872) erzählt von einem Postbeamten der 11 gramm Carbolsäure und 10 gramm Spir. Saponatus aus Versehen verschluckte. Er bekam Krämpfe, kalte Extremitäten und verlor das Bewusstsein. Die Magenpumpe wurde angewendet und der Magen ausgewaschen. Da der Patient nicht zu sich kam, wurde zur Ader gelassen; das sich entleerende Blut soll nach Carbol gerochen haben. Patient erholte sich ohne Nachkrankheit. William Hunter1 berichtet den Fall einer 45 Jahre alten Frau, die in der Trunkenheit ein Weinglas voll starker Carbolsäure trank. Nach Verlauf einer halben Stunde wurde sie bewusstlos. Die Untersuchung ergab Lividität des Gesichts, weisse Lippen, mässige Myose, beschleu- i) A case of Carbolic acid poisoning. Edinburgh Med. Journ. March 1885. 4 nigtes mühsames Athmen, starker Phenolgeruch der Eispirationsluft, Puls weich uud schwach, 120 pro Minute. Mittels Magenpumpe wurde der Magen mit warmem Sodawasser aus- gewaschen, alsdann 300 gramm 01. olivarum in den Magen gegossen und nach einiger Zeit ebenfalls wieder entleert. Der Zustand verschlimmerte sich so, dass der Tod unvermeid- lich schien. Nach Verlauf einiger Stunden jedoch trat Besserung ein. Am nächsten Tag war der Harn schwärzlich gefärbt aber eiweissfrei. Nach acht Tagen völlige Heilung. H. meint, dass in Folge der Trunkenheit die Resorption des Phenols langsamer vor sich ging, als unter normalen Umständen. Dessau1 berichtet den Fall eines Kindes von 2£ Jahren, das nach einer reichlichen Mahlzeit von Milch und Brod einen halben Theelöffel con- centrirte Carbolsäure zu sich nahm. Die Mutter des Kindes gab dem- selben alsbald einen Esslöffel voll Salatöl, bei der Ankunft des Arztes war das Kind comatös. Der Arzt gab dem Kind sofort mehr Oel* und kitzelte den Rachen mit einer Feder. Nach erfolgtem Erbrechen wurde Eiweiss-Milch und Kalkwasser gegeben. Das Kind genas. Der Urin desselben war mehrere Tage dunkelgrün. Dessau glaubt, dass in diesem Falle die Aetzwirkung wegen der Anfüllung des Magens nicht zur Geltung kam. Semple4 berichtet den Fall einer Erau, die aus Versehen einen halben Esslöffel Carbolsäure einnahm und darauf ebenfalls zur Oelflasche ihre Zuflucht nahm. Semple applicirte \ Gran Apomorphin subcutan, nach drei Minuten erfolgte starkes Erbrechen. Er gab später Mucilago und sah keinen Collaps eintreten. Die Patientin wurde gesund. Oberst 4 berichtet, dass ein an Blasencatarrh leidender Patient von einer Wärterin in der chirurgischen Abtheilung des Augsburger Spi- tales aus Versehen ein Wasserglas voll fünfpronzentige Carbollösung, anstatt Hunyadi-Wasser, zu trinken bekam. Nach drei Minuten trat Collaps und Bewusstlosigkeit ein. Die Magen- pumpe wurde applicirt und der Magen entleert; alsdann wurde mit kaltem Wasser nachgespült (Dieser Eingriff ist desshalb gut, weil verdünnte Carbolsäure sich mit kaltem Wasser gut mischt.) Der Patient erholte sich und sein Blasencatarrh besserte sich auffal- lend rasch nach dieser Carboiverschluckung. Als Erklärung für den von verschiedenen Seiten beobachteten gün- stigen Verlauf bei Carboivergiftung, möchte ich die verhältnissmässig geringe Affinität der Carbolsäure für Wasser betonen. Ganz im Gegen- satz zu der Schwefelsäure, welche ja unter Entwickelung grosser Hitze sich mit Wasser combinirt, müssen wir erst durch Schütteln, Erwärmen und andere Kunstgriffe eine complete Diffusion zwischen Wasser und Carbolsäure anbahnen. Nach Verschlucken von concentrirter Schwefel- säure werden wir unter allen Umständen Necrose der Schleimhaut im Schlund und Magen und deren Folgezustände beobachten und wie wenig Schaden richtet gelegentlich eine Carboivergiftung an. Ja, es ist denkbar, dass beim raschen Transport der conoentnrten Carbol- *) N. Y. Med. Record. 1878. 3) Wie das möglich ist im eomatösen Zustande hei Vorhandensein von Schlund-» krampf ist mir nicht verständlich ! A. C. *) Med. Monthly, 1877. *1 Beri. Klm Wochenschrift, 1878. 5 säure durch die mit zähem Schleime überzogene Speiseröhre (also beim Schluckakt) die Schleimhaut unverletzt bleiben kann, wenigstens bis zur Ausbuchtung des Oesophagus vor der Cardia, wo bekanntlich ein Durchpressen stattfindet Im Magen angelangt, wird eine ausgedehnte Anätzung auch nicht leicht ein treten; die Säure hat ja Gelegenheit im flüssigen Mageninhalt suspendirt zu werden. Ein rasches Nachschicken von grossen Portionen Milch, Schleim oder Oel, also von Sachen, die in der Regel bei der Hand sind, schützt die gefährdete Schleimhaut noch mehr. Nur auf diese Weise kann ich mir den günstigen Verlauf in den mitgetheilten Fällen erklären. Bezüglich der Wirkung des Phenols mag Folgendes von Interesse sein: Concentrirte Carbolsäure bewirkt Coagulation der Protein-Körper, wodurch eine Resorption von Seiten der Schleimhäute verzögert wird. Schwächere Lösungen werden desswegen zu rascheren und heftigeren Erscheinungen führen als concentriste Säure, weil sie rascher und voll- kommener resorbirt werden. Massige Gaben von Carbol werden von Er- wachsenen gut vertragen, das kindliche Alter hingegen ist für Carbol- säure höchst empfindlich: 0,01 g. können schwere Erscheinungen her- vorrufen. Ich kann bei dieser Gelegenheit vor längerer interner Anwen- dung des Phenols warnen. Ich habe dasselbe in der Kinderpraxis sehr ausgedehnt bei Pertussis, Diphtherie und Kindertyphoid versucht und bei zahlreichen Harnanalysen Carbolreaction gefunden. In zwei Fällen von Pertussis constatirte ich Albuminurie, welche erst acht Tage nach Sistirung der Carbolarznei verschwand. Das Phenol übt keine cumulative Wirkung aus und wird rasch durch die Nieren ausgeschieden. Die tief schwarz-grüne Färbung des Harns beruht auf Oxydationsprodukten in demselben und gestattet keinen Schluss auf die Sättigung des Organismus.® Hoppe-Seylxb ' hat in einem Yergiftungsfall Carbol im Blut nachge- wiesen. Die lethale Dosis der Carbolsäure lässt sich aus den publicirten Fällen gar nicht bestimmen. Für einen erwachsenen Menschen werden 18—30 g. angenommen.*) Ich habe einen Fall citirt, wobei Genesung nach der Verschluckung von 4 Unzen Carbolsäure eintrat. Von grossem Einfluss sind: 1. Ein leerer oder gefüllter Magen; 2. baldige oder verzögerte Hülfe; 3. Art der Hülfe. Erfolgt der Tod nicht etwa in den ersten 12 Stunden nach der Ver- giftung, so sind die Chancen für Wiederherstellung günstig. Die Haupt-Symptome sind: Coma und Anaesthesie; kalter Schweiss; Muskeltrismus. Tatlob & Scttox *) fanden Contraction der Speiseröhre. Kbönlein m) eben dasselbe Symptom. Ferner treten auf: Convulsionen — die Pu- pillen sind meist eng; selten wurde Erbrechen beobachtet Die Mund- und Rachenhöhle ist geröthet und zeigt weisse Flecken. Stuhlgang •) Salxowski; Archiv für Physiologie. 1872. *) Witriemberger Corrtspondera-Bla.il 1872. •) Oberst, loc. Cit. *) British Med. Journal, 1874. *°) BerL Elin. Wochenschr., 1873, 6 nicht charakteristisch. Urin grau-grün, manchmal Eiweiss enthaltend; Temperatur subnormal. Als sehr delicate und zuverlässige Farbenreaction für freie Carbolsäure im Harn gilt eine 2proz. wässerige Bromlösung. Will man Carbolate im Harn nacbweisen, so mischt man den Harn mit Salpetersäure und verdampft auf einer Porzellanschale; dann entwickelt sich deutlicher Carbolgeruch und es zeigen sich gelbe und rothe Ringe (Picrinsäure). Der anatomische Befund ist: Aetzung der betroffenen Schleimhaut; Lungenoedem und flüssige Beschaffenheit des Blutes. Ueber die Fälle, die sofort tödtlich verlaufen, kann ich mich kurz fassen, denn sie haben für diese Mittheilung keinen Werth. Hamilton11) glaubt, dass es sich dabei um eine Lähmung des Vagus- Centrums handele. Jeffries und Hainworth12) glauben, gestützt auf einen obducirten Fall, dass der Tod durch Erstickung eintrete und zwar in Folge von Hypersecretion und Schleimanhäufung in den Lungen, durch Vagus- Reizung und Lähmung, Salkowski13) nimmt Reizung des Vagus und des Respirations- Centrums in der Medulla an. Der Reizzustand wird durch Anhäufung von Kohlensäure im Blut zur Lähmung — asphyctisch tritt der Tod ein. Soviel steht fest: Die Carbolsäure ist ein starkes Nervengift; mehr will ich Ihnen von den langathmigen theoretischen Deductionen nicht zumuthen. Der Patient ist doch todt. Wie gestaltet sich nun die Behandlung im Lichte der gesammelten Casuistik? Ist die Schlundsonde am Platz ? Sind Brechmittel indicirt ? Haben wir Gegengifte oder neutralisirende Chemiealien zu geben ? Ich citire nochmals das ü. S. Dispensatory, in welchem es heisst: “The Stomach pump or the India rubher tube Syphon should he at once employed, the benumbing of the stomach being such that emetics usually will not act.” Ich glaube, man handelt im Interesse des Patienten, wenn man die Schlundsonde so lange derselbe bei Bewusstsein ist und schlucken kann, nicht anwendet, damit keine weitere Verletzung der Schleimhaut ent- steht. Die Anaesthesie der Magenmucosa war in meinem Falle ein auffälliges Symptom; denn gute und erprobte Brechreize helfen nichts. Dagegen haben wir in dem Apomorphin ein energisches Emeticum, das in 2 Fällen bei subcutaner Application mir seine Dienste nicht ver- sagte. Auch kann ich mich erinnern gelesen zu haben, dass bei einer Vergiftung mit einem nicht ätzenden Gift das Apomorphin sich eben- falls werthvoll erwies. Der Fall von Semple, dessen Bericht mir erst vor wenigen Tagen zu Gesicht kam, spricht ebenfalls für den Werth des Apomorphins bei Intoxicationen, wenn promptes Erbrechen indicirt ist. Es ist mit Vorsicht anzuwenden, da es Gollaps bedingen kann. Als Gegengift und zur innerlichen Anwendung sind empfohlen: von Hausmann u) das Calcium Saccharatum, von Galippe 1s) Kreide und Ol. olivar. Baumann & Sonnenberg 16) empfehlen die löslichen Sulfate-Natron 16) Med. Times und Gazette, 1877. n) British Med. Journal, 1873. >2) Med. Times & Gazette, 1871. >3) 1. C. l4) Journ de Pharmacie, 1873. >5) Journ. de Pharmacie, 1874. * 7 sulfuricum — das selbst nach Aufnahme der Säure ins Blut noch wirk- sam ist (vermutlilich durch Bildung eines Sulfocarbolates). Dr. Cernea n) hat durch Versuche im Laboratorium der University of Pennsylvania die Aussage von B. & S. bestätigt. Senftleben 18) empfiehlt warm: Acid. sulf. dilut. 10,0 Mucil Gi. arab. 200,0 Syr. simpl. 30,0 in Gaben von einem Esslöffel voll. Insofern Carbolsäure in Oel leicht löslich ist und alsdann nur geringe Aetzwirkung besitzt, so lässt sich gegen die Anwendung eines Oeles wenig einwenden. Da aber das Oel recht bald resorbirt wird und die toxische Wirkung des Phenols zur Geltung kommen muss, so ist die Anwendung löslicher Sulfate vorzuziehen. Da die Carbolsäure im Handverkauf an das Publikum abgegeben wird, kommen Vergiftungen damit verhältnissmässig oft vor. Ich habe im Bureau of Vital Statistics von New York die Bücher der letzten 10 Jahre durchgesehen und 39 Todesfälle durch Carbol ver- zeichnet gefunden. Dabei sind nur die accidentellen Vergiftungen gemeint; nicht die Selbstmorde mit Carbol, von denen etwa 8 Fälle sich vorfanden. Wie viele Vergiftungen günstig verliefen, entzieht sich der Berechnung. Die Säure wird meist aus Versehen geschluckt, nicht in selbstmörderi- scher Absicht; solche unglückliche Patienten verdienen desswegen die volle Sympathie des Arztes, dessen promptes, vernünftiges Eingreifen für Leben und Gesundheit gerade in einem solchen Fall von der aller- grössten Wichtigkeit ist. Resumiren wir die Behandlung der Carbol-Intoxication, so zeigt sich dieselbe sehr einfach! Ist der Patient bei Bewusstsein, so geben wir Natron sulfuricum in warmem Wasser, oder auch Galcaria carbonica, dann ein Emeticum innerlich oder auch Apomorphin subcutan. Ist der Pat. comatös so mag man dieselben Mittel durch Schlundsonde und Trichter oder Magenpumpe appliciren. Die Nachbehandlung ist die einer acuten Gastritis. Im Jahre 1872 hat Jemand den Vorschlag gemacht, alle Medicamente für äussere Anwendung in dreieckigen Gläsern zu dispensiren. Wäre dieser Vorschlag damals durch die Legislatur zum Gesetze gemacht worden, so würde die Casuistik der Vergiftungen wesentlich geringer sein.