Ueber den elektrischen Geschmack. Von Dr. J. Rosenthal in Berlin. Die Thatsache, dass jeder Nerv durch den elektrischen Strom erregt, auf die nämliche Weise reagire, als wenn er durch seinen sogenannten „adäquaten“ Reiz erregt würde, ist von jeher als eine der Hauptstützen der Lehre von den speci- fischen Energieen angesehen worden. Die Gegner dieser Lehre haben sich daher stets bemüht, jene Thatsachen zu bestreiten, und, sei es durch theoretische Betrachtungen, sei es durch Ge- genversuche, ihre Beweiskraft zu vernichten. Schon in den ältesten Zeiten des Galvanismus sind vielfache Zeugnisse für die elektrische Erregung der Sinnesnerven gesammelt, welche wir hier nicht aufzuzählen brauchen, indem wir auf die aus- führliche Zusammenstellung in du Bois’ Untersuchungen Bd. I. S. 339—358 verweisen. Nichtsdestoweniger sind alle diese Zeugnisse angezweifelt worden, und selbst Versuche, welche jeder auf der Stelle mit den geringsten Mitteln anstellen kann, sind nicht geglaubt worden. Das berühmte Sulzer’sche Ex- periment, welches von Volta sogleich als eine Wirkung der 218 J. Rosenthal: Elektricität auf den Geschmacksnerven erklärt wurde, haben Viele auf elektrolytischem Wege zu erklären versucht, indem sie annehmen, die Ursache der Geschmacksempfindung sei nicht die Einwirkung des elektrischen Stromes auf den Ge- schmacksnerven, sondern die durch Zersetzung der Mundflüs- sigkeiten freigewordene Säure oder Basis. Auch E. H. Weber tritt dieser Erklärung bei und beruft sich zur Begründung der- selben auf einen Versuch des bekannten Jatrophysikers Hey- denreich, wodurch nachgewiesen werden solf, dass wirklich an dem positiven Pol eines die Zunge durchfliessenden Stro- mes Säure, am negativen Alkali frei würde. Denn als Hey- denreich den positiven Draht einer zehnplattigen Säule mit blauem, den negativen mit rothem Lackmuspapier umwickelte, und dann erst an die Zunge anlegte, wurde das blaue Lack- muspapier, während der saure Geschmack empfunden wurde, blässer; „dass es sich röthete, verhinderte die alkalische Be- schaffenheit der Mundflüssigkeit. Das rothe Papier aber wurde schnell blau und zwar viel schneller, als wenn die galvanische Säule nicht geschlossen war, wo es in längerer Zeit durch die schwache Alkalescenz der Säfte des Mundes allerdings auch blau, aber schwächer blau wurde.“1) Was in aller Welt soll dieser Versuch beweisen? Dass der elektrische Strom die Salze der Mundflüssigkeit zersetze, daran zweifelt Niemand, dass aber frei werdende Säure oder Basis die Ursache des Geschmacks sei, beweist er nicht, denn es kam nicht ein Mal zur Röthung des blauen Lackmuspapiers, da die wenige frei werdende Säure sogleich von dem Alkali des Mundsaftes neutralisirt wurde. Es ist aber sehr wohl bekannt, dass höchst verdünnte Säuren, welche ganz und gar nicht auf die Geschmacksorgane wirken, so dass man sie nicht von destillirtem Wasser unterscheiden kann, schon Lackmuspapier intensiv röthen; wie kann man also behaupten wollen, freie Säure sei Ursache des empfundenen Geschmacks gewesen, wenn das Lackmuspapier nicht einmal schwach roth wurde. 1) E. H. Weber, Art. Tastsinn in Wagner’s Handwörterbuch, S. 39 des Separatabdrucks. Ueber den elektrischen Geschmack. 219 Es ist wirklich auffallend, wie eine Frage, die so leicht zu entscheiden ist, so lange hat streitig sein können, da sie doch wegen ihrer Beziehung zur Lehre von den specifischen Ener- gieen wohl verdient, endgültig entschieden zu werden. Sind die an der Zungenoberfläche abgeschiedenen Säuren und Basen Ursache der Geschmacksempfindung, so muss dieselbe fehlen, wenn man den Strom so durch die Zunge leitet, dass diese Abscheidung vermieden wird. Da nämlich die Abscheidung freier Säure und freien Alkali’s nicht innerhalb des Elektroly- ten selbst, sondern nur an der Grenze der Elektrolyte und me- tallischen Elektroden stattfindet, so wird die elektrolytische Er- klärung der Geschmacksempfindung unhaltbar, sobald dieselbe auch wahrgenommen wird, wenn die Zunge nicht unmittelbar Metall berührt, sondern zwischen Zunge und Metall irgend ein feuchter Leiter eingeschaltet wird. Dergleichen Beobachtungen finden sich schon in der Literatur verzeichnet und sind ange- führt bei du Bois, Untersuchungen u. s. w. Bd. I. S. 287, Anm. 2. Die erste rührt von Monro her, welcher den elek- trischen Geschmack auch empfand, wenn er zwischen Metall und Zunge Stücke rohen oder gekochten Fleisches brachte, die andere von Yolta selbst, welcher eine Kette von mehreren Personen bilden liess, so dass die eine immer mit ihrem Fin- ger die Zunge der anderen berührte; wenn dann ein Strom in der Richtung vom Finger zur Zunge ging, empfanden alle den sauren Geschmack. Endlich kann man den von Weber an- gezogenen Versuch Heyde nreich’s selbst als hierher gehörig betrachten und aus ihm gerade das Gegentheil von dem ablei- ten, was er beweisen soll. Wenn man nämlich den positiven Pol einer galvanischen Kette mit blauem Lackmuspapier um- wickelt, welches um zu leiten, mit destillirtem Wasser getränkt ist, und diesen Pol dann an die Zungenspitze legt, so wird in der ersten Zeit nach der Schliessung nur an der dem Metall zugewandten Seite des Lackmuspapiers freie Säure auftreten, nicht an der Zunge. Davon kann man sich überzeugen, wenn man den Strom nicht zu lange geschlossen lässt; man sieht dann auf der dem Metall zugewandten Seite des Lackmuspa- piers einen rothen Fleck entstehen, während es auf der entge- 220 J. Rosenthal: gengesetzten Seite noch vollkommen blau erscheint. Dennoch empfindet man den sauren Geschmack sofort im Moment der Schliessung. Danach wäre es also schon ausgemacht, dass das Auftreten freier Säure oder freien Alkali’s an der Zunge zur Entstehung des elektrischen Geschmacks nicht nothwendig ist. Bei der Wichtigkeit jedoch, welche dieser Gegenstand für die Lehre von den specifischen Energieen hat, schien es mir nicht unan- gemessen, den Versuch mit allen möglichen Cautelen zu wie- derholen, um dadurch eine endgültige Entscheidung herbeizu- führen. Ich ordnete den Versuch folgendermassen an: die Pole einer 1—4elementigen Daniell’schen Kette wurden mit Zink- platten verbunden, welche in zwei kleinen, mit Zinkvitriollö- sung gefüllten Gefässehen standen. Letztere waren durch lie- berförmige Röhren mit zwei anderen Gefässen verbunden, von denen das eine mit gesättigter Kochsalzlösung, das andere mit destillirtem Wasser gefüllt war. Aus letzterem ragte ein eben- falls mit destillirtem Wasser getränkter Fliesspapierbausch her- vor. Wurde nun die eine Hand in die Kochsalzlösung ge- taucht, und mit der Zungenspitze der Fliesspapierbausch be- rührt, so ging der Strom entweder von der Zunge zum Bausch oder umgekehrt, was man durch einen im Kreise befindlichen Stromwender in seiner Gewalt hatte. Wenn man auf den Fliesspapierbausch ein Stückchen blaues und ein Stückchen rothes Lackmuspapier derart legt, dass die Zunge beide berührt, so bemerkt man Folgendes: Das blaue Papier bleibt unverändert und das rothe wird bei der Berüh- rung durch die Alkalescenz des Mundsaftes schwach gebläut. Mag nun der Strom in der einen oder anderen Richtung hindurchgehen, die Farbe beider Papiere wird nicht geändert; wir sind also berechtigt zu sagen, dass an der Grenze von Zunge und Wasser keine merkliche Spur einer Säure oder einer Basis frei wird. Dennoch ist die Geschmacksempfindung recht lebhaft, und zwar als deutlich sauer zu bezeichnen, wenn der Strom vom Bausch in die Zungenspitze eintritt, als weniger bestimmt charakterisirt aber brennend (alkalisch), wenn der Strom die entgegengesetzte Richtung hat. Ueber den elektrischen Geschmack. 221 Folgendes wäre noch hinzuzufügen, das bei diesen Versu- chen bemerkt wurde. Der saure Geschmack wrar nicht nur intensiver, sondern er trat auch augenblicklich mit der Schlies- sung des Stromes ein, während der alkalische mehr allmählig sich entwickelte. Ebenso pflegte der saure Geschmack auch nach der Oeffnung des Stromes noch kurze Zeit anzudauern, während der alkalische schnell verschwand. Kehrte man den Strom plötzlich um, so war das Verhältniss dasselbe, der al- kalische Geschmack machte dem sauren stets momentan Platz, während der saure ganz allmählig in den alkalischen überging. Ohne mich weiter auf die Betrachtung dieser Thatsachen ein- zulassen, welche vielleicht mit der an motorischen Nerven be- kannten Modification der Erregbarkeit parallel zu stellen sind, will ich nur bemerken, dass es mir niemals gelungen ist, die Umkehrung des Geschmacks bei Oeffnung des Stromes, von welcher Ritter spricht,1) wahrzunehmen. Aus diesen Versuchen würde demnach hervorgehen, dass die Abscheidung freier Säure oder freien Alkali’s an der Ober- fläche der Zunge keine Bedingung für das Zustandekommen der Geschmacksempfindung ist. Es könnte jedoch der Einwand erhoben werden, wie durch die Untersuchungen du Bois- Reymond’s nachgewiesen worden sei, dass an der Grenze zweier Elektrolyte Polarisation stattfinde, dass also auch die Abscheidung freier Säure oder freien Alkali’s an der Grenze von Zunge und Fliesspapierbausch (der ja mit destillirtem Wasser getränkt war), wahrscheinlich sei. Obgleich nun, wenu dies in merklicher Weise stattgefunden hätte, das Lackmuspa- pier eine Farbenänderung hätte zeigen müssen, so wollen wir uns doch nach Mitteln umsehen, auch diesen Einwand zu be- seitigen. Wiederum finden wir schon aus den ältesten Zeiten des Galvanismus Angaben, welche auch diesen Einwand beseitigen, indem sie darthun, dass die Beschaffenheit der Flüssigkeit, welche die Zunge berührt, ohne Einfluss auf die Wahrnehmung des Geschmacks ist. Ich meine Volta’s Versuch mit der al- 1) Beiträge u. s. w. 3. u, 4, St. S. 161. 222 J. Rosenthal: kalischen Flüssigkeit im zinnernen Becher, welcher von Pfaff bestätigt worden ist.1) Auch ich habe den Versuch in ver- schiedenen Formen wiederholt und muss ihn bestätigen. Eine alkalische Flüssigkeit schmeckt sauer, wenn aus ihr ein elek- trischer Strom zur Zunge hingeleitet wird. Dass hier nur das Durchströmtsein der Geschmacksnerven Ursache des sauren Geschmacks sein kann, ist wohl nicht zu läugnen. Ich habe dem Einwurfe von der Polarisation an der Grenze ungleichartiger Elektrolyte auch noch auf andere Weise zu be- gegnen gesucht. Zunächst ist klar, dass wenn man in der früher beschriebenen Anordnung den Fliesspapierbausch statt des destillirten Wassers mit seinem eigenen Speichel tränkt, jener Einwand nicht mehr stichhaltig ist. Trotzdem aber wird man den Geschmack nach wie vor empfinden. Sodann habe ich noch folgenden Versuch angestellt: Von zwei Personen fasst die eine den positiven, die andere den negativen Pol einer Kette mit befeuchteter Hand und dann berühren sich beide mit ihren Zungenspitzen; dann empfindet die Person, welche den negativen Pol hält, den sauren, die andere den alkalischen Ge- schmack. Dieser Versuch ist, wie auch alle vorhergehenden, von mehreren unbefangenen Personen mit constantem Erfolg wiederholt worden. Hier befinden sich beide Personen unter ganz gleichen Bedingungen bis auf die Richtung des Stroms in ihren Zungen. Diese ist in beiden entgegengesetzt, und beide haben entgegengesetzte Empfindungen, obgleich ihre Zungen sich berühren, also dieselbe capillare Flüssigkeitsschicht die eine wie die andere bedeckt. So wäre denn der Satz, dass der Geschmacksnerv auf die Erregung durch den elektrischen Strom mit seiner specifischen Energie reagirt, gegen die dagegen gemachten Einwürfe gesi- chert. Von dem Sehnerven ist dasselbe schon durch Ritter’s und Purkinje’s Versuche unzweifelhaft festgestellt, ebenso wie es für sämmtliche Gefühlsnerven feststeht. Ich habe auch versucht, die Angaben Ritter’s und Anderer über die Wir- 1) A. Yolta’s neuere Untersuchungen über den Galvanismus. In Briefen an Gren in Ritter’s Beiträgen. 3. u. 4. Stück, S. 1. Ueber den elektrischen Geschmack. 223 kung elektrischer Ströme auf den Gehör- und den Geruchs- nerven zu prüfen, aber leider ohne Erfolg. Ich versuchte dem Akustikus den Strom durch Wasser zuzuleiten, welches ich in den äusseren Gehörgang brachte, aber ich hörte dabei auch ohne Strom ein solches Geräusch, dass es mir unmöglich war zu entscheiden, ob der Strom eine Gehörsempfindung verur- sachte. Ebenso liess ich mir die Nasenhöhlen nach der von E. II. Weber angegebenen Methode mit Wasser füllen, um dem Olfactorius den Strom zuzuleiten, aber ich kann nicht sa- gen, dass ich dabei etwas roch. Jedenfalls ist der heftige Schmerz, welchen man dabei empfindet, der Auffassung einer Geruchsempfindung, wenn eine solche vorhanden, eben nicht günstig.J) Wie dem auch sei, die Thatsache, dass Gefühls-, Seh- und Geschmacksnerven durch den elektrischen Strom erregt, jeder mit seiner specifischen Energie reagirt, scheint mir gesichert genug, um auf sie gestützt die Lehre von den specifischen Energieen überhaupt aufrecht zu erhalten, welche mit Unrecht von vielen Seiten angegriffen worden ist. 1) Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass der Verlust des Geruchs beim Anfüllen der Nase mit Wasser, welchen E. H. Weber entdeckte, kein Hinderniss sein kann, weichem der negative Erfolg unseres Versuchs zuzuschreiben wäre, da dem Strom ja der Weg zu den tiefer liegenden Stellen des Olfactorius offen steht, auf welche doch das Wasser keinen Einfluss haben kann.