VORTRÄGE HERAUSGEGEBEN VOM DEUTSCHEN GESELLIG-WISSENSCHAFTLICHEN VEREIN VON NEW YORK. No. io. VOLKSMEDICI N. DR. A. JACOBI. VOLKSMEDICIN VORTRAG GEHALTEN VOR DEM Deutschen Gesellig-Wissenschaftlichen Verein von New York am ii. März 1885 VON DR. A. JACOBI NEW YORK Druck der Cherouny Printing and Publishing Co., 17—27 Vandewater St. 1885. ICH fürchte, dass ich meinem Vortrage einen falschen Titel gegeben habe. ,,Fragmente aus der Volksmedi- cin,“ wäre ein passenderer Name gewesen, denn in dem Rahmen einer kurzen Stunde lässt sich ein Kapitel, dessen Inhalt der Weltgeschichte parallel läuft, nicht zusammenfassen. Ich bilde mir daher nicht ein, Ihnen vielerlei bieten zu können. In der Beschränkung des Stoffes, welche ich mir habe auferlegen müssen, habe ich indessen nicht umhin gekonnt, mir die Frage vorzulegen, was angemessener sei: den Versuch zu machen, Unter- haltendes und Ergötzliches zu bringen, oder Material zum Nachdenken und Behalten zu liefern. Das Letztere habe ich schliesslich vorgezogen. Zum Vergnügen muss Ihnen der zweite Teil des Abends ausreichen. Wenn ich Einigen von Ihnen mit dem Folgenden nützlich sein kann, so muss mein Zweck erfüllt sein. Hoffentlich werde ich nicht zu vielem Tadel dafür ausgesetzt sein, dass ich ein scheinbar specielles Fachthema zu unserer Unterhaltung ausgewählt habe. Thatsache ist es ja doch, dass das Publikum im Ganzen und Grossen sich gern, und mehr als ihm gut ist, mit ärztlichen Fragen beschäf- tigt. Sie werden es deshalb einem alten Fachmann nicht übel deuten, wenn er sich auch einmal herausnimmt, dieselben zum Gegenstand seiner Betrachtung zu machen. Volksmedicin und officielle Medicin stammen aus der- selben Quelle. Das Bedürfniss, dem Erkrankten und Verletzten zu helfen, hat beide hervorgerufen. Die Beobachtung dessen, was in ähnlichen oder ähnlich schei- nenden Fällen früher einmal nützlich gewesen sein mag, 4 giebt die Grundlage für das Handeln in kommenden Krankheiten oder Zufällen. Dabei war es natürlich, dass dieselben nicht gerade als Naturereignisse, als Folgen natürlicher Vorgänge aufgefasst wurden, sondern dass man sie als Schickungen und feindliche Einwir- kungen registrierte. Daher kam es, dass man gern sich an solche Personen w'andtc, von denen man voraussetzte, dass sie über Schickungen und übernatürliche Einwir- kungen genau Bescheid wüssten. Das waren die Priester. Noch heute entsprechen die Zauberer der Neger, die Schamanen der Sibirier den Priesterärzten der Griechen, Aegypter und Inder. Nur der Medicinmann der Indianer, welche diesen Titel jedem höher Begabten und Unter- richteten in ihrem Stamme einräumen, da bei ihnen die Gnade der Religion noch nicht zum Durchbruch gekom- men ist, gehört nicht zu dieser Classe. Mit den Priesterärzten der Aegypter und Griechen sind w’ir am meisten vertraut. Die Heiligtümer des Serapis in Memphis, des Aesculapius zu Epidaurus und Kos in Griechenland, und Pergamus in Kleinasicn waren ge- suchte Heilstätten. Die Tempel waren an luftigen ge- sunden Stellen, in Hainen, nahe an Trink- und minera- lischen Quellen erbaut. Ohne körperliche und geistige Vorbereitung durfte Niemand der Heilstätte nahen. „Reinen Sinnes muss sein, wer den duftenden Tempel beschreitet.“ In den Hallen des Tempels legte sich der Kranke ; im Traume nahte ihm die Gottheit und teilte ihm mit, was er zu thun habe, um seiner Krankheit ledig zu werden, Heilmittel sowohl wie Massnahmen. Ihm deutete der Priester seinen Traum, für ihn, wenn er mit keinen Träumen gesegnet wurde, legte sich der Priester in die Tempelhallen, träumte für ihn, deutete ihm, und riet ihm, im Namen der Gottheit. Dem Priester auch gab der genesende oder genesene Kranke die Geschenke, 5 welche entweder als Dankopfer der Gottheit, oder Aner- kennung dem Tempel zugedacht wurden. Was aber damals die Gottheit selber leistete, durch ihre irdischen Diener, das wurde später durch deren Stellvertreter, St. Denis, den heiligen Martin, San Jago di Compostella und die Mutter Gottes zu Kevlaar ausgeführt. Es konnte indessen nicht fehlen, dass im Laufe der Zeit gute Beobachter unter den Priestern empirische Kenntnisse sammelten. Von dem, was gesehen und hülfreich befunden war, wurde Notiz genommen. In besonders wichtigen oder merkwürdigen Fällen, wie noch die neulichen Ausgrabungen zu Epidaurus ergeben, über welche Prof. Merriam von Columbia College in der Aca- demy of Medicine in nächster Woche berichten wird, wurden Inschriften angefertigt, und dadurch der Schatz wirklicher Kenntnisse allmählich vermehrt. Die Heil- kunst wurde damit langsam dem Glauben und Schwindel entfremdet. Die ältesten chinesischen Bücher über Medicin datiren Tausende von Jahren, der Papyrus Ebers anderthalb Jahrtausende, die indischen Bücher, Susrutas Ayurvedas, zwölfhundert Jahre vor Christus zurück. Um die griechischen Tempel siedelten sich nicht selten Philosophenschulen an, deren Teilnehmer gute Natur- beobachtung und Trieb nach Wahrheit glücklich ver- einigten. In dieser Weise wurde es möglich, dass Hippokrates von Kos eine so grosse Menge von natur- getreuen Beobachtungen sammeln und verwerten konnte, dass noch heute, und für alle Zeiten, seine als echt anerkannten Schriften als Vorbild des wissenschaft- lich geläuterten gesunden Menschenverstandes und der unverfälschten Symptombeobachtung am Krankenbette gelten können. Um so grösser sind seine Leistungen und um so vielfacher der Dank, welchen die Nachwelt ihm und dem Jahrtausend seiner priesterlichen Vorgänger 6 schuldig ist, wenn Sie bedenken, dass der ganze damalige Fortschritt der Heillehre ohne Kenntniss des Baues und der Lebensvorgänge des menschlichen Körpers gemacht werden musste ; denn Sectionen waren verboten. Galen, der vierhundert Jahre später lebte, erklärt es für ein grosses Glück, dass ihm vergönnt gewesen sei, auf seinen Reisen die Skelette von zwei Mördern zu sehen, welche man in Aegypten habe verfaulen lassen. Menschen seciren war ausser Frage. Seine Anatomie lernte Galen, oder glaubte er zu lernen, an Affen. Selbst Vesal, der grösste Anatom des Beginnes der Neuzeit, geriet in Lebensgefahr wegen seiner anatomischen Arbeiten, und kaum hundert Jahre ist es her, seit in dieser Stadt New York, um das alte New York Hospital herum, aus der- selben Ursache der ,,Doctors*-Mob“ wütete und Brutalität und Totschlag herrschten. Im Mittelalter wurde die Arzneikunst, wie alles Andere, zunftmässig ausgeübt. Es gab eine grosse Classe von Medicinalpersonen, welche irgend wie oder wo ihre Kunst gelernt hatten. Physici waren auf Uni- versitäten gebildet, meist in Italien oder Frankreich. Sie genossen grosses Ansehen, besonders da ihre Zahl klein war, als Heilkünstler und Lehrer der Mcdicin. Ansässig waren sie nur zeitweilig; sie führten ein Wander- leben, vermieteten sich wohl als Stadtärzte, und stellten auf ihren Reisen ihr Licht nicht unter den Scheffel. In ähnlicher Weise lebten und wirkten die Chirurgen. Da- neben gab es Bader, Barbiere, Feldscherer, Apotheker und Hebammen. Dies waren die Regulären. Dazu kamen Hirten, Schäfer und Jäger. In alten Zeiten hatte man ihnen grosse Naturkenntnisse zugeschrieben und übernatürliche Begabung. Jeder District hatte seinen Lampe. Scharf- richter und Henker. Sie verstanden sich auf Salben für 7 die Wunden, deren sie so viele machten, und heilten die Knochenbrüche, welche sie selber verschuldeten. Schmiede, — sie besorgten die Pferde und verstanden sich daher auf die Krankheiten der Menschen. Alte Frauen, — man schrieb ihnen Prophetengabe zu und die Fähigkeit, welche heute mit Vorliebe den jungen zuge- schrieben wird, durch Wort, Blick oder Zauber Ueber- natürliches zu leisten. Sie konnten ihre Kunst sogar übertragen, aber, trotzdem dass sie alt waren, nur auf Männer, wie auch heilkräftige Männer ihre geheime Kunst wieder nur auf Frauen übertragen konnten. Solche Praktiken und Anschauungen entsprechen ganz den Vorstellungen, welche man vom Altertum her bis ins späte Mittelalter hinein von der Natur der Krankheit hatte. Sie galt vielfach für eine directe feindliche Ein- wirkung auf menschliche Wesen, und man glaubte daher, dass eben solche Einflüsse zu ihrer Heilung nötig seien. Daher erklären sich Wunderglaube, Erbauung von Tem- peln für bestimmte Krankheitsgöttinnen, z. B. die Febris ; der neuplatonische Glaube an Dämonen; die gewaltige Wirkung des Wortes Abracadabra, welches der Arzt des Septimius Severus erfand ; der Glaube an die bösen Gei- ster, welche unter dem Christentum die Stelle der Dämo- nen vertraten; an Besprechen, Berufen, bösen Blick, Hexerei, an Amulette und andere Schutzmittel, wie Pro- cessionen und Wallfahrten. Leider können wir das Mittelalter noch immer nicht als abgeschlossen be- trachten. Denn Gebete, Sagen, Besprechungen sind noch heute Heilmittel, denen Viele nachlaufen. In einem Kloster der Nachbarschaft, über den Sümpfen und Mosquitoes des westlichen Flussufers treibt ein frommes Kirchenglied sein Heilgeschäft in dieser Weise. Der Glaube an ihre Wirksamkeit ist sicherlich stark verbreitet. Mehr aber 8 als sie, scheinen Amulette Zug- und Wunderkraft zu be- haupten. Ich habe kaum jemals ein irländisches Wesen — männlich oder weiblich — ausserhalb oder innerhalb eines Hospitales getroffen, das nicht an schmutzigem Bande ein schmutzigeres Amulett trug. Gold, Silber, Metalle überhaupt, sind selten, Leder mit unerforsch- lichem Inhalt, nicht immer blos nach Knoblauch, Pfeffer, Kampher u. dgl. riechend, häufiger. Nicht immer sind es blos die niedrigsten Volksklassen, welche die Träger dieser Sachen sind. Der reichgewordene Patentbesitzer von Holman’s Liver Pad, Congressmitglied u. s. w. hat der zahlenden Bevölkerung dieser Staaten eine neue Art von Amuletten geschaffen. Eine andere Auffassung der Krankheit bestand in der Annahme einer geheimnissvollen Beziehung des Men- schen zur Natur, deren Ausdruck in Plato’s Lehre der allgemeinen Harmonie ursprünglich zu finden ist. Aus ihr entwickelte sich leicht die Lehre vom Einfluss der Ge- stirne, der günstigen Wirkung der glänzenden Planeten Venus und Jupiter, der verderbenbringenden des roten Mars und trüben Saturn, des Horoskopstellcns, der Be- deutung der Astrologie überhaupt für die gelehrte und die Volksmedicin, der Wichtigkeit gewisser Wochentage, des abnehmenden Mondes für ärztliche Behandlung ge- wisser Zustände, und daneben auch für die Ausbeutung der Natur in ihre tiefsten und schmutzigsten Winkel hin- ein. Die Sonderbarkeiten der chinesischen Medicin, und die naiven Abscheulichkeiten von ..Paulini’s heilsamer Dreckapotheke,“ (1696), finden in dieser Weise ihre Er- klärung. Eine dritte Ansicht von der Krankheit war die, dass ein concretes feindliches Wesen in den Körper eindringc und um jeden Preis hinauszuschaffen sei. Alle Formen der ausleerenden Behandlung sind von jeher zu dem 9 Zwecke des Hinausschaffens der Schädlichkeit in Ge- brauch genommen, und wenn zufällig, oder in Folge eines krankhaften Prozesses, oder einer künstlichen örtlichen Reizung die Körperoberfläche der Sitz einer Ausschei- dung wurde, so war nichts natürlicher als dass man die- selbe schonte, pflegte und segnete. Was sagt der gute Onkel Bräsig: ,,Du kannst Dir mit die Dams erzählen, was Du willst, wirst aber schwerlich ’ne Antwort kriegen, wenn Du nich von ihre Krankheitsgeschichten anfängst, wo oft sie schon Pückeln über den ganzen Leib gekriegt haben, un Swären un blinde Dinger ; denn das ist in einer Wasserkunst die gebildtste Unterhaltung.“ Im Zusammenhänge damit lassen Sie mich ein Beispiel dieser Art Volksanschauung prüfen, welches zu Erläuter- ung dessen, was ich beweisen wollte, von Interesse sein mag. Kopfausschläge bei den Kindern werden für eine grosse Wohlthat angesehen und vielfach sorgfältig gehütet. Las- sen sie mich ein paar Worte über diese armen, schmutzigen Kinderköpfe sagen. Der Schmutz ist zweierlei, richtiger normaler, oder Krankheitsproduct. Jener findet sich bei ganz Kleinen, ein paar Monate alten. Auf Kinderköpfen sind eine grosse Anzahl Talgdrüsen stark entwickelt; bevor das Haar dichter wächst, ist deshalb die Kopfhaut, die Stirn, und das Näschen, das liebe kleine Näschen, fettig glänzend anzusehen. Oft bekommt sogar der Finger beim Fühlen den Eindruck der Fettigkeit. Die Absonderung dieser Talgdrüsen häuft sich in den Drüsen, in den Ausführungsgängen und in deren Umgebung an, vermischt sich, wenn nicht abgerieben und entfernt, mit den oberflächlichen, abschuppenden Hautteilchen und dem von aussen zugeführten Schmutz, und das Resultat ist die fest anhaftende, dunkelbraune oder schwarze Masse, welche zuletzt nur mit Mühe und grosser Sorgfalt zu ent- fernen ist. Gewöhnlich wird sie erst weggeschafft, nach- dem sie zu einer Unterbrechung des Haarwuchses und zu Hautreiz Veranlassung gegeben hat. Die andere Form ist ernsthafterer Natur und verlangt vielleicht sogar hier ein Wort der Warnung und Heleh- rung. Nach der Geburt entwickelt sich kein Teil des kindlichen Körpers so schnell und bedeutend, wie der Kopf mit seinem Inhalt. Nicht nach fünf oder sechs Monaten, sondern sofort fängt dies rasche Wachstum an. Die Zähne bilden sich schon vor der Geburt, wachsen schnell rascher und kommen zu bestimmter Zeit zum Vorschein. Das Zahnen, die Entwicklung der Speichel- drüsen, die rasche Entwicklung geistiger Fähigkeiten, der Haarwuchs entsprechen nur dem Zudrang des Hlutes zu jenen Teilen, in denen die Entwicklung des Baues und der Kräfte in gleichem Masse vor sich geht. Die Schnelligkeit dieser Entwicklung setzt einen sehr ausge- dehnten Blut- und Säftezudrang voraus, welcher darin seine Erklärung findet, dass das kindliche Herz eine im Verhältniss zum übrigen Körper bedeutende Massigkeit besitzt, und die nach aufwärts gehenden Blutgefässe, eine unverhältnissmässige Weite. Nun werden Sie leicht verstehen, dass dort, wohin eine grosse Blutmengc strömt mit normalen Wirkungen, oder wie man sich sonderbarerweise gern ausdrückt, zum Zwecke der nor- malen Organbildung — als ob Naturvorgänge einen beab- sichtigten Zweck hätten — auch sehr leicht ein Ueber- mass der Blutzufuhr stattfinden kann. Der Ursachen dafür kann es viele geben. Ein elastisches, lebendiges, von seinem Bau und dem seiner Umgebung abhängiges Blutgefäss — und hunderte kommen in Betracht und zur Wirkung — ist eben keine Bleiröhre, und das Gehirn und sein Behälter keine Badewanne. Dieses Ucbcrmass führt zu Stockungen, zu unregelmässiger Ernährung, zu Schwellungen, zu Ausschlägen. Diese Ausschläge, d. h. Bläschen mit klarem oder eiterigem Inhalt trocknen oder zerbrechen; der Inhalt gerinnt sofort, vermischt sich mit Hauttalg, mit Hautschuppen, mit Schmutz von aussen, mit Papier und Schmier, mit Bandelin und Vaselin, mit ranzigem Fett, wird sorgfältig gehegt und gepflegt, — es ist ja so gut für das Kind, die geheimnissvolle Krank- heit kommt heraus ! Das ist die Manier, wie das Engel- köpfchen allmählich durch die Scala verschiedener Ehren- und anderer Titel zum Grindkopf herabsinkt. Wenn die Resultate des Ausschlags, die Schuppen und Borken, frühzeitig entfernt worden wären, hätte man sich Schmutz und gelegentlich Ekel, dem armen Kinde Jucken und Schmerz und Schlaflosigkeit und zweifelhafte Titel er- spart. Aber noch viel mehr als alles das ! Da es mög- lich ist, dass meine Worte beachtet werden, und dass dieselben sogar über diese Schwelle hinaus gehört wer- den, so will ich eine Bemerkung hinzufügen. Mit dem Ausbrechen des Ausschlags, und seiner Schonung und — ich möchte sagen — sorgfältigen Pflege ist der Schatz des Bösen, welcher dem Baby für sein künftiges Leben gesammelt wird, lange nicht erschöpft. Jede permanente Reizung irgendwo auf einer Oberfläche hat ihre unmittel- bare Folge. Sie haben oft von Leichenvergiftungen bei Aerzten gehört. Eine kleine Abschärfung am Finger wird von Leichengift gereizt, ein Minimum wird in den Blutlauf aufgenommen, und der Mann stirbt an allgemei- ner Blutvergiftung in kurzer Zeit. Das erste Zeichen der Krankheit ist die Entzündung der Lymphgefässe den Arm hinauf und die Schwellung der Lymphdrüsen in der Achselhöhle. In ähnlicher Weise wirkt jede örtliche Reizung, auch wenn der Reiz nicht gerade giftig ist. Eine wunde Haut- oder Schleimhautstelle zieht immer benachbarte Lymphdrüsen in Mitleidenschaft. Sie wer- 12 den gereizt, schwellen, entzünden sich, und werden ent- weder wieder gesund, oder verhärten sich und werden dadurch unbrauchbar, oder gehen in Eiterung zu Grunde. So kommt es, dass wunde Hautstellen bei kleinen Kin- dern, in den Schenkelbcugen z. B., fast niemals ohne Schwellung der benachbarten Drüsen verlaufen, dass jeder Durchfall ohne Ausnahme, wenn er nur ein paar Tage dauert, z. B. der sogenannte Zahndurchfall, die be- nachbarten Drüsen in Gefahr bringt mit möglicher Ent- artung für Lebenszeit, dass eine laufende Nase bei kleinen Kindern immer nach kurzer Zeit Drüsenschwellung am Halse bewirkt, und dass Kopfausschläge immer Drüsen- kränze unter dem Kinn, hinter dem Ohr, um den Nacken herum hervorrufen. Wäre der ursprüngliche Ausbruch sofort beseitigt, wäre das Alles nicht passirt. Wäre der Durchfall nicht geschont worden, weil die Nachbarfrau der Meinung war, dass der Nachbarin Kind am Zahnen, oder am ,,zweiten Sommer,** leidet, so wären die Bauch- drüsen nicht entartet; wäre der Kopf zur rechten Zeit ge- reinigt, so hätten %sie sich Drüsen und Eiterungen und Verhärtungen, mit der lebenslänglichen Entstellung und dem lebenslänglichen Kranksein, erspart, und vielleicht frühen Tod. Das ist gar nicht übertrieben, und ich will Ihnen sagen, warum. Die geschwollenen Halsdrüscn, welche die Folge der Kopfentzündung sind, kennen Sie nun. Das sind die sog. scrophulösen Drüsen. Diejenigen am Halse sehen Sie, die andern aber nicht. An die schliessen sich Reihen auf Reihen an, Dutzende, Hun- derte, in derselben Nachbarschaft, aufwärts, abwärts, in den Brustkorb, an die Lungen heran, um die Lungen herum. Die schwellen, entzünden sich, ihre Ver- bindung mit dem Lymphsystem der Luftwege reizt zu Congestion, Catarrh, Entzündung in ihnen. Die chronischen Husten ganz kleiner Kinder, welche 13 zu wiederholten Lungenentzündungen, Todesfällen, gelegentlich zu chronischer Lungenschwindsucht führen, finden auf diese Weise ihre Erklärung. Aber nicht ge- nug damit. Die Verbindung der Lymphgefässe und Lymphdrüsen des ganzen weiten Körpergebietes ist eine sehr intime. Krankheiten der einen Region teilen sich der entfernten sehr leicht mit, wie ein Ferment in kurzer Frist eine weite Strecke durchmisst. In dieser Weise wird das, was ursprünglich blos eine örtliche Drüsen- schwellung war, leicht zu dem, was man allgemeine Scrophulose nennt. Viele Fälle der letzteren sind nicht, was sie schliesslich werden können, eine allgemeine, son- dern eine örtliche Krankheit, welche sich mit leichter Mühe hätte verhüten, oder heilen lassen können. Ich hoffe also, dass diejenigen, welche mich hören, und die- jenigen, welche deren Stimme vernehmen, in Zukunft darauf achten werden, dass örtliche Reizungen, wie acute oder chronische Catarrhe der Nasen, oder des Darm- kanals, oder Entzündung der Kopfhaut nicht länger die Erlaubniss haben, durch Vernachlässigung den ganzen Körper krank zu machen. Der Grundsatz muss bald Eigentum der Volksmedicin werden; und die Volks- medicin muss sich bequemen, dem Beispiele der wissen- schaftlichen Medicin zu folgen, und die Verhütung der Krankheit höher zu stellen, als die vielleicht unmögliche Heilung. Eine Bemerkung, welche ich in diesem Zusammenhänge habe fallen lassen, bewegt mich, über die Frage des zweiten Sommers, Welcher in der Volksmedicin eine so grosse Rolle spielt, und die Gefährlichkeit desselben für das amerikanische, speciell New Yorker Kind einige Worte zu verlieren. Diese ,,Eigenschaft“ des zweiten Sommers, unsere Kinder umzubringen, ist allmählich Evangelium geworden, und wird einfach geglaubt. Der Sommer kann es wohl nicht recht sein, denn der zweite des einen ist der erste des andern Würmchens und der achtzigste des achtzigsten. Also handelt es sich wohl um die Gefahr des zweiten Lebensjahres. Es giebt nur ein anderes Vorurteil, das ebenso komisch ist, wie dieses, nämlich dasjenige, dass ein Siebenmonatskind leben bleibt, aber ein Achtmonatskind sterben muss. Wissen Sie, wie ein grosser Professor in Padua diesen Glauben, den er von den Lippen der Nachbarfrauen der ganzen Welt annahm, erklärt hat ? Sehr einfach so, und vergessen Sie es nicht. Im siebenten Monat der Entwicklung des Kindes regiert Luna (Mond). Sie begünstigt die Lebensfähigkeit durch ihre Feuchtigkeit — übrigens ist der Mond herzlich trocken und nur die Nächte sind nass — und das von der Sonne erhaltene Licht. Im achten re- giert Saturn. Der hat seine Kinder gefressen und setzt das Geschäft noch immer fort. Im neunten regiert Jupiter, der Lebensspender, und das ist gut für die Kinder. Wenn die nun geboren sind, leben sie durchschnittlich in guter Gesundheit, doch in grosser Gefahr. Der Uebcr- gang in das neue Leben, die schnelle Wandlung im Blut- lauf, der Einfluss wechselnder Temperaturen, die zarte Entwicklung und Unfestigkeit der Organe und Gewebe bedingen häufige Krankheit und frühen Tod. Mit jedem Tage, welchen das Kind sich von der Geburt entfernt, wird es kräftiger und lebenssicherer, die Sterblichkeit nimmt mit jeder Woche, jedem Monat, jedem Jahre ab. Der zweite Sommer kostet weniger Opfer als der erste. Wer Augen hat zu sehen, der schaue in die amtlichen Register und finde den Beweis dafür in den Zahlen. Aber der zweite Sommer kostet mehr Opfer als er sollte. Die Schuld liegt nicht am zweiten Sommer, nicht an den Kindern — sie liegt bei der Sommerhitze und bei den 15 Eltern. Die Sommerhitze kann immer gefährlich sein, Sommerhitze bei schlechter Nahrung wird vielfach töt- lich. Thatsache ist, dass fast alle Sommertodesfälle bei Kindern von Krankheiten der Verdauungsorgane er- folgen, dass also alle jene Todesfälle vermieden würden, wenn diese Organe nicht erkrankten. Nun ist der zweite Sommer derjenige, in welchem die künstliche Nahrung der Kinder begonnen hat, oder beginnen soll. Verstän- dige künstliche Nahrung ist die naturgemässe für Kinder, welche alt genug, und deren Organe hinreichend vorbe- reitet sind. Bei guter Fütterung durch verständige Hand erkranken wenige Kinder vom Magen oder Darm aus. Verständige Mütter in guten Wohnungen und selbst ärmlichen Verhältnissen verlieren keine Kinder aus dieser Ursache. Also nicht der zweite Sommer ist es, der die Kinder tötet, sondern die Unwissenheit oder die Unacht- samkeit der Pfleger oder Pflegerinnen. Das ist um so schlimmer, als die Regeln für Kinderernährung so sehr einfach sind, in der That so einfach, dass sie gerade dieser Einfachheit halber nicht befolgt werden. Indessen soll ich ja nicht über Medicin reden, oder über meine Ansichten, sondern über Volksmedicin wie sie ist, gelegentlich auch, wie sie sein sollte. In Bezug auf Kinderernährung thut nun die Volks- gewohnheit das Menschenunmögliche. Zuerst wird alles Mögliche gefüttert, natürlich schluckt das Würmchen alles, was man ihm in den Mund steckt. ,, Das Aeffchen gar possierlich ist, zumal wenn es vom Apfel frisst.“ ,,It looks so cunning.“ Fragen Sie sämmtliche Dispensary- Aerzte der Stadt um die stereotype Erkundigung bei unterleibskranken Kindern: Was bekommt das Kind zu essen? Antwort: Alles was vorkommt. Oder: Es isst vom Tisch. Oder: Es isst mit uns. Lassen Sie mich von den Einzelheiten schweigen, — gefärbtem Candy, saurer 16 Milch, frischem Brod, Wurst, Kaffee und Thcc, rohem Obst, Gemüse: Durchfall-Krankheiten—Tod. Todes- ursache? Natürlich, zweiter Sommer. Ich sage Ihnen, das Gestorbensein ist nicht schlimm für den kleinen Leichnam. Aber kein Grabhügel vergräbt den Jammer und das Verschulden der Uebcrlebenden. Aber haben die Uebcrlebenden nicht das Ihrige ge- than ? Gewiss, als das Kind krank wurde, haben sic gesagt, das Kind zahnt ja, oder: das kommt vom Som- mer, oder: die Nachbarin sagt, ihr Kind hat es gerade so. Schliesslich wird das Gesichtchen dünn und die Haut welk, und man fragt den Doctor. Oft wird es gut, die Nahrung wird beschränkt, oder geändert. Aber bei manchen heisst es: ,,Was? Gerstenschleim? Das Weisse vom Ei ? Dazu hätte ich keinen Doctor gebraucht l Nicht so viel trinken lassen ? Ich lasse mein Kind nicht dur- sten !“ Jetzt kommt die Reihe an das, was heutzutage Volks- medicin geworden ist, käufliche Kindernahrungsmittcl. Sie müssen sehr gesund und zuträglich sein ; in Deutsch- land, England und Amerika, werden hundert verschie- dene Sorten gemacht. Sie sind so zuträglich, dass sehr viele von den Fabrikanten sich sehr wohl dabei befinden. Sie haben auch den Vorzug vor der einfachen und leicht kenntlichen Kindernahrung, dass sie theuer sind, denn die Fabrikschornsteine rauchen doch nicht umsonst — und eine Nahrung, wie Gerste, Hafer und Kuhmilch, so billig und so einfach, kann doch nicht das richtige sein. Es wird also „kaiserliches Granum,“ und „Nestle,“ und „ Ridge“ neben einander, vor und hinter einander ge- geben, und die Resultate des Unverstandes bleiben nicht aus. Ich behaupte übrigens nicht, dass alle künstlichen und käuflichen Kindernahrungsmittel schlecht seien, ich behaupte es nur von einem Teil derselben, besonders 17 von einem Teil der eben genannten ; einige sind sogar ganz gut. Was ich behaupte, ist vor allen Dingen dies, dass selbst gute Mittel der Art eine Versuchung zur Nach- lässigkeit und zum Schlendrian bieten, weil sie zu dem Glauben verleiten, welcher auf den Umschlagspapieren gepredigt wird, dass mit dem Verabreichen derselben nun Alles gethan sei. Manche der Verkäufer, nebenbei gesagt, sind sehr eifrige Leute. In einer öffentlichen Rede, vor einer ärzt- lichen Delegatenversammlung, habe ich meine Meinung über diese Gegenstände ausführlich dargelegt. Ein Händ- ler, welcher dem Publikum weismachen will, dass er Phosphor, wie er es nennt, vitalisirt, wenn er das auf oblongen Apothekerschildern behauptet, war so eifrig auf das Wohl des Publikums bedacht, dass er mich einlud mich mit ihm abzufinden, und schliesslich mit einer Klage drohte, in einem Briefe, der mehr unorthographisch als elegant war. Ich benutze diese Gelegenheit ihn an sein Versprechen zu erinnern. Eine öffentliche Klage der Art würde, wenn auch nicht mir, doch dem geprell- ten Publikum der Vereinigten Staaten eine Warnung sein. Nach diesen Bemerkungen über ein Kapitel der Krank- heitslehre, und eines der Diätetik, die beide leider für unsere Tage gültig sind, wende ich mich nun zu einigen Fragmenten über populäre Arzneimittellehre. Die Schnelligkeit des modernen Verkehrs, das Auf- hören des Abgeschlossenseins des ärztlichen Standes, die Zunahme der Bücher, Journale, Wochenblätter, Tages- zeitungen aller Art haben eine grosse Summe von Kennt- nissen oder scheinbaren Kenntnissen in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet. Die vergrösserte Anzahl der Arzneimittel, und ihre Besprechung in der Tages- literatur, ferner die wachsende Dichtigkeit der Bevölke- 18 rung hat zu einem enormen Verbrauch von Arzneimitteln geführt. Kaum wurde eine neue Arznei in ärztlichen Kreisen bekannt, einerlei ob ihr Ruf feststand oder nicht, so bemächtigte sich auch das Publikum derselben. Einige haben sich ein solches Bürgerrecht erworben, dass sie zu Hausmitteln geworden sind. Lassen Sie mich nur einige von denen nennen, welche bei uns in allgemeinem Gebrauch sind. Vom Opium nenne ich nur Soothing Syrup und Paregoric. Das erstere ist ein unzuverlässiges, bald zu mildes, bald zu kräftiges Opiumpräparat, deshalb oft wirkungslos, und nicht selten gefährlich. Aller Warnungen ungeachtet, wird es viel gebraucht; sein Ge- brauch ist Missbrauch. Paregoric ist ein officinelles Prä- parat, welches in einer halben Unze einen Gran Opium enthält. Die Maximalgabe lässt sich daher leicht be- rechnen; die meisten Präparate der Art, welche in den Apotheken zum Hausgebrauch verkauft werden, sollen abgeschwächt sein, um Unfällen zu begegnen. Natürlich widerrate ich den unberechtigten Gebrauch. Es ist leicht, Arzneien zu nehmen und zu geben ; es ist schwer, die Anzeige dafür zu finden. Lassen Sie mich eine Be- merkung über Opium aus Tabernacmontanus’ Kräuter- buch lesen: ,.Dieweil auch die Landstreicher und ver- zweifelte Juden diesen Saft in stetigem Gebrauch haben und grosse Wunderzeichen damit pflegen auszurichten, dieweil sie gar geschwind und behend alle Schmerzen können damit stillen und nicdcrlegen, und ihnen daselbst mit ein Ansehn bei dem gemeinen Mann machen, son- derlich aber die lose Juden; will ich Jedermann gewarnt haben, dass er solcher Leute, sogar kein Gewissen haben, müssig gehe, denn sie nur gedenken, die Schmerzen zu lindern, Gott gebe, es gerate hernach, wie es wolle.“ Ipecac, die Wurzel der Ipecacuanha, ist vielfach in Ge- brauch. Der Syrup, dessen Bekanntschaft unsere Kinder 19 frühzeitig machen, verdirbt leicht, ist aber eben so leicht ersetzt. Sie wirkt als Brechmittel, in kleineren Gaben als Lösungsmittel für festen catarrhalischen Husten. Neben- bei verdirbt sie den Magen, macht die Kinder blass, und erspart manchem Doctor einen Mitternachtsbesuch, den er einem hustenden Baby zu machen haben würde, wenn nicht die sorgsame Mutter ihre Angst um die Natur die- ses Hustens an dem ratlosen Baby ausliesse. Der Saft der Meerzwiebel, ,, squills “, wird zu ähnlichen Zwecken gebraucht. Er verdirbt das Mägelchen noch schneller, als das vorgenannte Mittel, und sollte ganz gemieden werden. Unter den Fiebermitteln ist die Aconittinctur und das Chinin besonders beliebt. Jene wütet mehr in angel- sächsischen Kreisen. Sie ist eine kräftige Arznei und verlangt daher eine kundige Hand; ich hoffe, dass sich in den deutschredenden Kreisen ihre Verehrer nicht vermeh- ren. Der Chiningebrauch hat sich unendlich gesteigert. Da es die Temperatur des catarrhalischen und entzündlichen Fiebers herabsetzt, und da sich aus ärztlichen Kreisen, in welchen die Bedeutung hoher Temperaturen besser verstanden wird, in die Volkskreise der Glaube verbreitet hat, dass das Herabdrücken der Körperwärme in den meisten Krankheiten das Hauptziel der Behandlung sei, so ist man blind in das Mediciniren mit Chinin hineinge- gangen. Das Publikum wird wohl thun sich daran zu erinnern, dass gelegentlich grosse Gaben von Chinin vergiftend wirken, dass sie Blindheit und Taubheit machen, und dass auch kleine Gaben für unvorbereitete Verdauungsorgane verderblich wirken können. Der Chininmissbrauch hat noch dadurch seine besondere Aus- dehnung erhalten, dass es das Hauptmittel in Wechselfieber und anderen Malariakrankheiten geworden ist. Der wohl- klingende Name Malaria hat sich nun schneller einge- 20 bürgert als Pocken oder Cholera, und wirkt bösartiger auf die Geister, als diese Pesten auf die Leiber. Es gicbt heute schon kein Uebel, das nicht in der Meinung des Publikums seine volle Berechtigung hat, wenn das ge- heimnissvolle Wort von den Lippen der Frau Nachbarin fällt. In diesem Zeitalter des Zweifels und der Skepsis ist der Glaube an die Allgegenwart und Allmacht der Malaria eine Macht geworden, der zu widersprechen heute fast eben so bedenklich ist, wie es vor Jahren riskirt war zu erklären, dass man zu keiner Kirche gehöre. Die Dogmen der letzten Jahre heissen Malaria und Bakterien, die Alles erklären und durch welche Alles gerechtfertigt wird. ‘\Sweet spirits of nitre,” Salpeteräther — fast hätte ich dich über dem Malariaunfug vergessen ! Das Universalmittel einer zahlreichen Schar von Gläubigen, Fiebermittel, Krampfmittel, Colikmittel, Darm- und Nierenmittel, — wie viel Beruhigung hat es schon denjeni- gen gegeben, welche es anderen verabreicht haben. Es hat noch eine lange Carriere vor sich, denn es lässt sich kaum beweisen, dass es in kleinen Gaben schädliche Wirkung äussert. Die zahlreichen Arzneimittel, welche Volksmedicinen geworden sind, fallen unter verschiedene Classen. Manche sind unwirksam oder unschuldig, die meisten aber sind wirksame, gelegentlich gefährliche Stoffe in unpassenden Händen. Der Auffassung der Krankheit als eines Wesens, das man irgendwie aus dem Körper zu schaffen habe, entsprechen die abführenden und Schweiss treibenden Methoden. Nichts ist dem heutigen Staats- bürger einleuchtender, als dass man seinem Körper da- durch wohl und dem Doctor Abbruch dabei thut, dass man ein oder zweimal wöchentlich ein russisches, türki- sches oder römisches Bad nimmt. Die Theorie ist, dass 21 einer Krankheit, welche sich irgendwo festgesetzt hat •oder festsetzen will, das Quartier gekündigt wird, indem man ihr in der s. g. Eröffnung der Poren der Haut die Stelle zeigt, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Die gelegentlichen Fälle, in welchen ein Herzkranker seine Thorheit an Ort und Stelle mit dem Tode bezahlt hat, werden bald vergessen. Das vermehrte Herzklopfen bei andern, welche noch nicht ganz reif zum Selbstmord sind, wird nur als Beweis dafür genommen, dass das Bad gewirkt hat. Dass ein mächtiges Mittel, wie jene Bäder, bestimmte Anzeigen hat und ein zweischneidiges Schwert ist, das gelegentlich die wirkliche oder ver- meintliche Krankheit, gelegentlich aber den ehrsamen Besitzer trifft, wird übersehen oder nicht geglaubt. Eine andere Methode Krankheit oder gefürchtete Krankheit aus dem Körper zu entfernen, ist das Verab- reichen von Abführmitteln. In früheren Zeiten waren die Quecksilbermittel hier zu Lande die gebräuchlichsten. Die angelsächsische Medicin brauchte viel Calomel und blue mass. Als dieselben aus der regulären Medicin zu verschwinden begannen, bemächtigte sich das Publikum dieser Mittel und führte den Aerzten durch ihren Miss- brauch zahlreiche Patienten zu. Nicht bloss wurden sie gebraucht und missbraucht, sie wurden sogar verehrt und mit Rücksicht behandelt. Ein Mann, der Calomel ge- nommen hat, betrachtet seinen Leib als zeitweilig gehei- ligt, und macht Anspruch darauf, dass sein Nebenmensch diese Situation respektirt. Ich fragte einst einen seit •einem Dutzend Jahren verstorbenen Collegen, dessen sich Manche von Ihnen noch erinnern werden: „Was thun Sie, wenn Sie Nachts nicht ausgehen mögen ?“ „Was ich thue ? In der That, ich thue gar nichts. Ich rufe durch mein Sprachrohr: Good gracious, very sorry indeed, have just taken viy calomell1 22 Seit Jahren haben die dringenden Anzeigen der völker- beglückenden Importeurs Calomel und blue tnass zu ver- drängen angefangen. Was sagte Rehabeam: ,,Mcin Vater hat Euch mit Peitschen gezüchtigt, ich aber werde euch mit Scorpionen züchtigen.“ An die Stelle jener Mittel, welche von Zeit zu Zeit genommen wurden, sind böhmische, ungarische, bairische Bitterwasser mit täg- lichem Gebrauch getreten. Leben und leben lassen, ist, wenn nicht die Absicht, doch die Praxis der Salzcifrigen. Die Gewohnheit hält sie beschäftigt, und die Doctoren- mühlen der medicinischen Schulen des Staates New York allein liefern jährlich ein halbes Tausend Aesculape, denen die leidenden selbstgelicferten Artefacte willkom- mene Kunstgegenstände werden. Statt dieser täglichen oder wöchentlichen Selbst- kasteiungen gab es, giebt es zum Teil noch, Frühjahrs- curen, welche einen wesentlichen Bestandteil der Volks- medicin ausmachen. So regelmässig, wie der brave Bürger seine Steuern auf dem Amt abliefert, so lieferte er sich in früheren Zeiten dem Barbier zum Aderlässen oder Schröpfen in die Hände. Ich erinnere mich ganz gut der Zeit, in welcher die Bauern und Bäuerinnen meines Dorfes haufenweise in die Stadt zogen, zum „Lassen;“ oder zum Dorfschneider, der das Schröpfen besorgte. Das war das Frühjahrsopfer. Es hat lange aufgehört, sogar, wie es scheint, in Italien, seitdem der grösste Italiener des Jahrhunderts, Cavour, mit Aderlässen um- gebracht worden ist. An dessen Stelle traten die Früh- jahrskuren, welche in der Verabreichung eines tüchtigen Abführmittels bestanden. Nicht immer war die Praxis schlecht. Die Unbeweglichkeit und der Hausaufenthalt eines langen nordischen Winters, besonders bei Leuten, welche das übrige Jahr hindurch an energische Leibesbe- wegung gewöhnt sind, machen eine Kur der Art gelcgcnt- 23 lieh wünschenswert. Gar wohl habe ich mich eines alten ärztlichen Sprichworts oft mit Nutzen erinnert: „Wer gut abführt, der gut curirt.“ Aber keine Praxis der Art, welche nicht mehr Unterschied macht, als Regen oder Sonnenschein bei Rechten oder Unrechten, und welche so weit ausgeartet ist, dass unter der soge- nannten Blutreinigung nur Abführmittel verstanden wer- den, ist gerechtfertigt. Die Frühjahrskuren mit einfachen Abführmitteln erin- nern mich schmerzlich an eine andere, die Wurmkur. Es ist nun fast ein halbes Jahrhundert her. Meine gute Mutter hatte ihre jährlichen persönlichen Erfahrungen mit dem handfesten Jungen gehabt und ihre Bemühungen aus guten Gründen aufgegeben. Weiss Einer oder Eine von Ihnen, was Wurmsamen mit Syrup bedeutet ? Wenn Sie das wissen, so wird es Ihnen auch begreiflich, viel- leicht aus Ihrer persönlichen Erfahrung begreiflich, dass drei handfeste Bauern kaum genügten, um dem armen Würmchen jährlich zu seiner Wurmkur behülflich zu sein. Aber die Kur erreichte immer ihren Zweck, ich wurde gedemütigt und meine Mutter war beruhigt. Sie hatte Recht und ich hatte Unrecht. Denn zu jener Zeit däm- merte erst der Medicin das Bewusstsein auf, dass es mit der Notwendigkeit der regelmässigen Wurmkur, noch dazu bei abnehmendem Monde, doch wohl nicht so ernst sei. Nur die alte Medicin aber glaubte baumfest an die universelle Schädlichkeit der Würmer im Darmkanal, welche alle möglichen Krankheiten verursachten. Als die Medicin diese Thorheit allmälig aufgab, zog die Volksmedicin das alte Kleidungsstück mit Freuden an. Bis auf die neueste Zeit, trotzdem dass bessere Nahrung der Kinder die Würmer im Darmkanal bei uns zu einem verhältnissmässig seltenen Vorkommen gemacht, ist der Glaube an die Entstehung fast aller Kinderkrankheiten 24 vom Zahnen und von Würmern noch lebendig in den mütterlichen Gemütern. „ Aber ich sage Ihnen doch, Herr Doctor, es kratzt sich immer an der Nase.“ Dann hauen Sie es gelinde auf die Finger, oder reinigen Sie das R—näschen mit etwas dünnem Salzwasser, oder gebrau- chen Sie etwas ungesalzenes Fett, oder Olivenöl, oder Vaselin, aber nicht auswendig, wie das beliebt ist, son- dern wirklich inwendig. Wie ich sagte, fangen die Würmer als Krankheits- ursache an. ihren Credit unter uns zu verlieren. An die Stelle der Würmer ist die Malaria getreten, wohlklingend, geheimnissvoll, vielsagend, nichts sagend, nichts bedeu- tend. Darüber rede ich wohl noch ein anderes Mal mit Ihnen. Das Zahnen aber hat von seiner Bedeutung noch nichts verloren. Was wäre die gute liebe Volksmedicin ohne das Zahnen ? Zahnen nicht alle Kinder ? Und sind nicht alle, oder die meisten Kinder einmal krank ? oder un- pässlich ? oder sterben nicht eine Anzahl ? Nichts kann einfacher sein, als dieser Zusammenhang. Auch dies interessante Kapitel kann ich nicht weiter berühren. Ich will meine Ketzerei nicht weiter treiben, als dass ich wiederhole, was ich hundertmal gesagt und geschrieben habe, dass nämlich das Zahnen an Hirnentzündungen, Lungenentzündung, Sommerdiarrhoe, krummen Beinen, dicken Knochen, Verkrümmungen des Rückens, Läh- mungen, sogar an Mundentzündungen unschuldig ist. Vielleicht ist mir noch einmal vergönnt, auch vor gemischtem Publikum die Irrlehre von der Gefährlichkeit des normalen Zahnens zu bekämpfen. Das leztgenannte Uebel, die Mundentzündungen, fuhrt mich übrigens zu dem Thema der zu Hausmitteln gewordenen Arzneien zurück, von dem ich ausgegangen war. Das chlorsaure Kali, oder besser Kalium, fälschlich 25 Chlorkalium genannt, englisch: Chlorate of Potassa oder Potassium — (gelegentlich auch das Natrium oder Sodiumsalz der Chlorsäure) — ist seit etwa dreissig Jahren in der Medicin vielfach verwandt worden. Es ist ein gutes, wahrscheinlich das beste Mittel in den gewöhn- lichen Formen catarrhalischer und geschwüriger Mund- und Halsentzündung, welche ihren Ursprung der Reizung durch plötzlichen Temperaturwechsel, Unreinlichkeit, faulige Zersetzung von Nahrungsresten und Quecksilber- arzneien verdankt. Es ist auch als Beihülfe zur Behand- lung der gewöhnlichen Formen der Halsdiphtherie viel- fach empfohlen worden. Die grosse Häufigkeit dieser Krankheitsformen, besonders in den letzten fünf oder sieben und zwanzig Jahren, hat sowohl Namen als auch Gebrauch dieses Mittels im Publikum bekannt und sehr populär gemacht. Die Folge davon ist gewesen, dass es zum Range eines sogenannten Hausmittels in des Wortes verwegenster Bedeutung gestiegen, oder gefallen ist. Ich sage wohl nicht zu viel, wenn ich vermute, dass unter zwei hier Anwesenden wenigstens Einer, oder Eine, ohne ärztliche Anweisung oder Verordnung sich des Mittels bedient hat. Wenig P'amilien mag es geben, in denen die sorgsame Hausfrau nicht eine Schachtel oder ein loses Papier mit den bekannten weissen Krystallen zu etwaigem künftigen Gebrauch besitzt. Nun ist aber nicht einmal das Aufbewahren des Mittels ganz ohne Gefahr. Trocken und pulverisirt reicht ein Stoss ge- legentlich hin, um es explodiren zu machen. In meiner eigenen Erfahrung hat das Schütteln einer Flasche mit dem ausgetrocknetem Pulver ein Unglück angerichtet. Das ist aber nicht einmal das Schlimmste, wovor ge- warnt werden muss. Innerlich genommen, wird das Mittel leicht giftig. Es passirt die Verdauungsorgane und das Blut, in welches es eindringt, ohne sich 26 zu verändern. Es verlässt den Körper in derselben Gestalt und Lösung, in welcher es eingeführt worden ist. Dabei verändert es in grösserer Gabe die Be- schaffenheit des Blutes und Blutfarbstoffs physikalisch und chemisch. Es bilden sich gelbbraune Schollen, welche den eingeatmeten Sauerstoff nicht mehr ver- werten und sich in den kleinsten Gefässen, besonders der Nieren, festsetzen. Die Folge davon ist Unter- brechung der Nierenthätigkeit und schneller Tod, in der- selben Weise, wie derselbe in der acutesten Form der sog. Bright’schen Nierenentartung auftritt. Vor vielen Jahren gab ich einem Erwachsenen Ij4 Unzen (45 Grammes) des Mittels mit der Weisung, dasselbe in 1 Quart Wasser aufzulösen und im Laufe von einigen Tagen als Mundwasser zu gebrauchen. Er trank die Masse im Laufe eines Nachmittags und war in drei Tagen eine Leiche. Dasselbe Verfahren mit demselben Resul- tate ist sonst seither beobachtet worden. Vor drei Jahren sah ich in der oberen Stadt einen kräftigen Schul- knaben von 15 Jahren, dessen Geschichte die folgende war: Seinem Schulvorsteher klagte er über Schling- beschwerden und bat um Urlaub, um zu seinem Doctor zu gehen. Jener erklärte, das sei unnötig, er wisse vom Hals soviel wie der Doctor. Er solle Chlorate of Potash kaufen, und fleissig damit gurgeln und davon trinken. Der vertrauende Knabe that wie ihm geheissen war. Nach sechs Tagen traf ich ihn sterbend von dem Gifte, von dem er, wie der Arzt sorgfältig herausgebracht, fünf Tage lang fleissig äusserlich, und innerlich täglich etwas mehr als drei Drachmen (12 Grammes) gebraucht hatte. Ich würde froh sein, wenn dies die einzigen Fälle der Art wären. Seitdem ich zuerst die Gefahr des Mittels — nicht im Jahre 1860, wie in seinem kürzlich erschienenen Buche über den Gegenstand Mehring mir zuschreibt — 27 im Anfänge der siebenziger Jahre, dann wieder in 1877 in Gerhardt’s Handbuch der Kinderkrankheiten, und in einer eigenen Arbeit im Jahre 1879, bekannt gemacht habe, vermehrte sich die Literatur über Fälle von ähnlichen Vergiftungen in erschreckendem Masse. Zwanzig Gran für ein einjähriges Kind im Laufe eines Tages, neunzig Gran für einen Erwachsenen in derselben Zeit sind eine reichliche Gabe. Was darüber ist, das ist vom Uebel und eine grosse Gefahr. Wenn ich Ihnen nun vor diesem beliebten ,,Hausmittel“ einen Schrecken ein- geflösst habe, so ist das ein heilsamer und mein Zweck erreicht, welcher darin besteht, Sie vor dem Vertrauen auf sogenannte Hausmedicinen und populäre Medicin zu warnen. Ob manche alten Prozeduren heilsamer sind, ist fraglich ; aber sie sind nicht gefährlich. In Mittel- deutschland braucht man eines von zwei Dingen bei der Mundfäule des Kindes. Entweder man braucht eine Borax-Auflösung, oder man zieht dem Kinde den Schwanz einer schwarzen Katze durch den Mund. Wahr- scheinlich hat man oft die beiden Heilmittel combinirt. In Frickenhausen am Main und in Ochsenfurt heilt man dieselbe Krankheit mit dem folgenden Segen, den man dreimal über den Mund des Kindes spricht, mit drei- maligem Hineinhauchen: ,, Job, Job ging über Land. Er trug ein Stäblein in der Hand. Da bequam ihm Gott der Herr. Gott der Herr sprach : Job, Job, warum trauerst Du so sehr ? Herr, warum soll ich nicht traurig sein, Es will meinem Kind sein Zung und -Mund verfaulen.” (G. Lammert, Volksmedicin und medicinischer Aber- glaube in Bayern. Würzburg, 1869). Das curirt. Wenn man auch noch den Doctor fragen will, so kann das nicht viel schaden. Die Reihe der officinellen Arzneien, welche mit Recht oder mit mehr Unrecht, sogenannte Volksmittel gewor- 28 den sind, ist damit noch lange nicht erschöpft. Ich habe nur darauf aufmerksam machen wollen, dass nicht in jeder Hand ein Werkzeug seinen Zweck erfüllt. Man bekämpft eine Krankheit nicht glücklich, wenn man nicht vorher deren Natur und Wesen kennt, und man bedient und heilt auch nicht eine Krankheit, sondern den Kran- ken, je nach seiner Individualität. Wenn man es doch jemals fertig brächte, diese zwei einfachen Sätze den Menschen klar zu machen. Dieselben Wesen aber, welche sich empört w’undern würden, wenn man ihnen zumuten würde, eine Nagelbürste oder einen Apfel- kuchen zu construiren, weil man das doch erst gelernt haben muss, finden es ganz begreiflich, bis an die Ellen- bogen in chlorsaurem Kali, Chinin Soothing Syrup zu arbeiten, wie die gichtischen und rheu- matischen Bauern am Rhein in den Kingeweiden frisch getöteter Tiere. Von Patentmittcln, Nostrum’s aller Art. kostspielig annoncirten Mitteln ist dabei noch gar nicht geredet worden. Es ist wohl auch nicht nötig, denn nichts ist leichter zu verstehen als dass die grosse Allitera- tion R. R. R. — nicht „rum, rheumatism and rebellion, — sondern Radway’s Ready Relief; dass Witchhazcl, dass erst recht, meine Damen — und Herren auch — Ponds Extract Alles curirt. Alles ohne Ausnahme, meine ich, äusserlich und innerlich. Man sieht gar nicht ein, wie irgend Jemand daran zweifeln kann. Es ist so albern, dass man es glauben muss. Man kann ja doch auch glauben, wenn man nur will, dass ein Ring an jeden Fin- ger passt, eine Schraube in jedes Loch, eine Kugel in jedes Gewehr, ein Rock an jeden Leib, ein Hinterwäldler in jedes Amt. Credo quia absurdum est. Ich will es mit meinen Freundinnen nicht verderben; ich glaube an Pond’s Extract, und bis zu einem gewissen Grade, an 29 andere Curiosa auch. Man kann sich freilich nicht vor- stellen, aber man kann es ja glauben, dass die Dose Gerbstoff, welche in Pond’s Extract enthalten ist, alle Leiden hebt. Glauben Sie nicht, Herr Präsident, dass ich persönlich an Curiositäten etwas auszusetzen habe. Eine solche ist unter den vielen Quacksalberbrochüren eine, welche Sie mir vor einigen Tagen einhändigten. Unter dem für Be- fangene und Ununterrichtete bestechenden Namen des Naturheilverfahrens hat sich bei einer Reihe von unver- frorenen Geschäftsleuten seit dreissig Jahren ein Artikel eingebürgert, der den Vortheil hat, sehr wohlfeil zu sein. Er kostet Nichts, kein Wissen, keinen Verstand, und keine Achtung vor dem Publikum, nur die Schlauheit des Kleinbürgers, who means business. Die Brochüre, natür- lich im Selbstverlag herausgegeben, entwickelt die ge- wöhnliche paradiesische Nacktheit von allem Wissen, für das sie die beliebte Verachtung heuchelt. Das Weir Mitchell’sche Bettliegen, sein ,,rest treatment“ wird mit Tabackspfeifen-Gemütsruhe und deutscher Biederkeit von dem Propheten einfach annektirt, und mit kalter Milch combinirt. Bettliegen und kalte Milch kuriren Blindheit, Taubheit, Lähmung, Rückenmarkserweichung, Lungenkrankheiten, Sängerinnen, Blutsturz, Diphteritis (also unorthographische Diphtherie), Scrophulose, Syphi- lis, Krebs, Frauenkrankheiten natürlich „aller Art,“ Blutarmut, Bleichsucht, Menstruationsstörungen allen Gradeg, Krämpfe, Migräne, schauerliche Zustände aller Art, Pilzvergiftung, Wahnsinn, Somnambulismus, Unter- leibsgeschwülste. Dieser Art ist das Futter, das dem Esel aller Zungen, besonders dem deutschen, in die Krippe geschoben wird. Diese Sorte Literatur ist sehr gross, und zwar in allen Ländern. Diese Büchelchen sehen einander auf ein Haar 30 ähnlich: dieselbe Verachtung vor dem Wissen, der Wissenschaft, der deutschen Sprache ; dieselbe Selbstver- herrlichung ; die kurzen Sätze und Absätze. Nur ist ein Unterschied in der Bearbeitung derselben ganz auffallend. Sie werden finden, dass ein engliches oder amerikanisches Buch, das für Reclamc irgend eines Schwindels gemacht wird, wissenschaftliche Thatsachen oder Sätze irgend welcher Art zu Grunde legt, um darauf ein trügerisches Gebäude zu errichten. Die Verfasser dieser Dinge bekunden damit einen gewissen Respekt vor dem Publikum, das sie gewinnen und täuschen wollen. Nicht so der deutsche Apostel. Er hat so wenig Achtung vor denjenigen, welche er anredet, dass er plumperweise weder Kenntnisse noch Intelligenz bei ihnen voraussetzt, und ausdrücklich von sich selber ausposaunt, dass die Resultate dessen, was Jahrtausende ehrlicher Geistes- arbeit errungen haben, ihm unbekannt und gleichgültig sind. Es giebt natürlich bessere Bücher als diese unwürdige Klasse, und auch die Zahl dieser besseren, welche für das grosse Publikum bestimmt sind und die gesammte Diäte- tik und Medicin oder einige Teile derselben behandeln und mundgerecht machen sollen, ist enorm. Der Wohl- thäter dieser Art giebt es sehr viele, die Wohlthaten aber sind karg gemessen. Thatsache ist, dass fast alle diese Schriftsteller über das Ziel hinausschiessen. So ange- messen die Grundkenntnisse vom Bau und Leben des Menschenkörpers für jeden unterrichteten Menschen sind, so unzweckmässig ist der Versuch, Spezialkenntnisse in kürzestem Rahmen und noch kürzerer Zeit beibringen zu wollen. Thatsachen, deren Erlernung und Verständniss dem Studierenden oder Arzte nur nach langen Jahren ge- lingen, werden mit der Schnelligkeit des Lichtes dem un- vorbereiteten Lesekundigen für wenige Thaler in kür- 31 zester Frist eingetrichtert, nach dem Grundsätze des alten pensionirten Feldwebels, den ich als Knabe kannte. Der lautete : ,, Mein Junge, ich weiss nämlich Alles. Ich brauche blos in meine Bücher zu sehen.“ Eines der anspruchsvollsten der Art von Büchern ist ,,das Buch vom gesunden und kranken Menschen,“ von Bock, dem ich eine kurze Betrachtung widmen will, weil ich vermute, dass von den i *4 Dutzend Auflagen, welche dasselbe erlebt haben soll, eine Anzahl Exemplare in die Häuser friedfertiger und argloser Familien eingedrungen sind. Zu sagen, dass das Buch, von wissenschaftlichem Standpunkte betrachtet, durchweg schlecht, würde eben so unrecht sein, als behaupten zu wollen, dass es in gutem Deutsch geschrieben sei. Beides ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig. Wenn ich aber einen An- spruch an ein solches Compendium erhebe, so ist es der- jenige, dass dasselbe brauchbar und richtig sei. Das wissenschaftlich noch so correkte ist Ballast, wenn in un- passenden Händen, und das denkbar pikanteste und witzigste verfehlt seinen Zweck, wenn es falsch ist. Von diesen beiden Standpunkten aus ist das Buch ein schäd- liches. Es will zu viel geben und verliert dadurch an Wert. Der erste Band enthält gutes Material aus der Anatomie, Physiologie und Diätetik. Der zweite Band enthält eine ausgedehnte Krankheitslehre. In dem- selben finden Sie in der letzten Auflage Behauptungen aufgestellt, welche noch lange nicht erwiesen sind, z. B. dass Lungenschwindsucht von eingeatmeten Ba- cillen stammt. An anderer Stelle eine minutiöse Be- schreibung und Behandlung der allerverschiedensten Vergiftungsformen, Abhandlungen über krankhafte Neu- bildungen und Geschwülste mit griechischen Namen, unter denen ich den unvorbereiteten und nichts Böses ahnenden Anwesenden zu Cystomen, Hygromen, En- 32 Chondromen, Fibromen, Sarkomen, Exostosen u. s. w. ganz besonders Glück wünsche. Wieder an einer andern, zum Hausgebrauch, eine Aufzählung ausländischer Krank- heitsformen als da sind, Lepra, Aleppobeule, Elephantia- sis, Frambösia. Grobe Irrtümer giebt es dabei in Menge, selbst in Be- zug auf Gegenstände, welche dem einfachst unterrichte- ten Arzt geläufig sind. Was der Verfasser über die häufige Krankheit der spinalen Kinderlähmung sagt, ist meist falsch. Wenn er die Rhachitis der Kinder die Folge ungenügender Kalkzufuhr in der Nahrung nennt, so behauptet er, was genügen würde, einen Candidatcn durchfallen zu lassen. Wenn er vom grossen Veitstanz als einem häufigen Vorkommen spricht und Regeln für seine Behandlung angiebt, so weiss er eben nicht, dass er wahrscheinlich nie einen gesehen hat, eben so wenig, wie tausend andere Aerzte, welche ein reichliches Quantum Arbeit liefern, ohne jemals einem Fall von grossem Veits- tanz zu begegnen. Diese Proben sind ehrlich citirt, aber nur aufs Geratewohl genommen. In meinem Durch- blättern bin ich auf manche ebenso löcherige Behaup- tungen gestossen. Grobe Verstösse wie diese, splltcn auch den einfachsten Beobachter kopfscheu machen, so- bald der Verfasser sich darauf verlegt, Ratschläge zu geben. Gelegentlich rät er, einen rationellen Arzt kommen zu lassen. Wie der Leser aber einen rationellen und gewissenhaften Arzt erkennen soll, bleibt ungewiss, es sei denn, dass es einer ist, der unter keinen Umständen ,.Giftstoffe“ aus der Apotheke verschreibt. Die helfen nun einmal gar nichts. So hat z. B. „die Behandlung des Scharlachs mit Arzneimitteln bis jetzt wohl noch nie etwas Gutes, gewiss aber schon viel Schlimmes bewirkt.“ Es wird gut sein, die Abschwächung des prophetischen Dictums durch „bis jetzt wohl noch nie“ und „gewiss aber 33 schon“ zu beachten. Natürlich spielt die „Naturheil- kraft“ eine grosse Rolle. Sie entfernt z. B. Splitter durch langsame, vielleicht wochenlange Eiterung, — an- dere Leute ziehen die sofortige Entfernung mittelst einer Pincette, sogar das Herausschneiden, entschieden vor, — Blutung, Schlagfluss, Schwindsucht, Lungenentzün- dung ; natürlich alles Andere. Ich glaube indessen, dass bei Blutung, Schlagfluss, Schwindsucht und Lungenent- zündung die meisten seiner eigenen Jünger vorziehen, zum Arzt zu schicken. Von der letzten Krankheit sagt der Verfasser wörtlich: „Hinsichtlich der Behandlung ist zu betonen, dass die Lungenentzündung in den aller- meisten Fällen bei zweckmässiger Pflege günstig ver- läuft und in Genesung übergeht.“ Ich habe indessen noch Niemand getroffen, der mit dem statistischen Resul- tate zufrieden war, dass die meisten andern Leute gene- sen, falls sein eigenes Leben in Gefahr ist. Uebrigens brauchen die Kranken nicht zu verzagen. Falls sie näm- lich wissen sollten, dass sie an einer Lungenentzündung leiden, — dass sie ihren Zustand erkennen, setzt der gütige Schriftsteller voraus — versieht sie der arzt- feindliche Verfasser mit einer langen Reihe von Regeln. „Sehr heftige Brustschmerzen werden durch Eisumschläge, Senfteige oder Schröpfköpfe gemindert.“ Sie haben also die Wahl. „Gegen drohende Herz- schwäche sind kräftige Reizmittel anzuwenden.“ Jetzt weiss der Kranke Bescheid. Natürlich weiss der Kranke oder seine Umgebung, wann Herzschwäche droht, was ein kräftiges Reizmittel ist und wie es angewendet werden soll, nämlich folgendermassen: „Stärkung der Nerven ist natürlich nicht durch Arzneistoffe, sondern nur auf diätetischem Wege zu erreichen ;“ d. h., der Ver- fasser des vielgelesenen Buches rät Ihnen, wenn Ihnen ein Kind oder eine Mutter oder Schwester an Herz- 34 schwäche in einer Lungenentzündung zu Grunde zu gehen droht, keinen Aethcr, oder Kamphcr, oder Mo- schus. oder Cognac aus der Apotheke zu benutzen, son- dern diätetisch zu verfahren. Was das heissen soll, ist mir unklar. Vielleicht soll man Biersuppe kochen, oder Chamillenthee, oder Trost zusprechen. Und solche Leute nimmt das Publikum ernsthaft, blos weil sie sich, wie Heine sich ausdrückt, ihre Unwissenheit selber er- worben haben. Nehmen Sie noch ein Beispiel, das Ihnen beweisen wird, wie der Rat des Predigers in der Wüste Ihnen so gar nichts nützen würde. Der Verfasser sagt an einer Stelle : ,,Die Behandlung im Migräncanfall“ (vom Patienten oft besser als vom Arzte gekannt) „besteht in Ruhe, horizontaler Lage mit erhöhtem Kopf, Dunkelheit und Fasten ; Manche werden durch einen starken Aufguss von ungebranntem Kaffee oder chinesi- schem Thee, durch Erbrechen, Klystiere, Brausepulver, Druck durch Binden des Kopfes, wohl selten durch äussere, dem Kopf applicirte Mittel erleichtert. Die radikale Kur ausser dem Anfalle“ (er will natürlich sagen, ausserhalb des Anfalles) „kann sich nur auf Regulirung der Lebensweise beschränken ; übrigens kann man bei der Behandlung der Migräne nicht genug vor dem Miss- brauch der Medicamente auf der Hut sein.“ Worauf die Bock aller Zungen so viel Wert legen, ist der Umstand, dass die Aerzte nach ihrer Aussage gele- gentlich das Unzweckmässigste oder Falsche thun oder thun können. Der Unterschied zwischen den armen Aerzten und den Kritikern ist der, dass jene, wie gesagt wurde, gelegentlich das Falsche thun, diese aber immer. Denn das Nichtsthun ist immer falsch, und das Nichts- thun predigen ist Impotenz oder Sünde. Die Hypokrisie dieser sich vordrängenden Kritik läuft immer darauf hin- 35 aus zu behaupten, dass Andere unter dem Thun das Receptverschreiben verstehen. Wie der grosse Diätetiker seine Aufgabe versteht, will ich Ihnen noch an einem einzigen Beispiele zeigen. Wenn es nämlich irgend einen Gegenstand giebt, welcher einem Volksdiätlehrer Gelegenheit geben könnte, wertvolle Vorschriften und Erklärungen zu geben, so ist dies das Kapitel der Hautpflege, aber unter den 1200 Seiten füllt dieser Abschnitt nur zwei. Auf diesen zwei Seiten sind abgehandelt : Allgemeine und örtliche, heisse, laue und kalte Bäder, Sturzbäder, Uebergiessungen, Arzneibäder, Soolbäder, römische Bäder, Abwaschungen, Einpackun- gen, warme Umschläge, ununterbrochene Berieselungen. Dahingegen haben sie 18 enggedruckte Seiten von Ver- letzungen und deren Bedienung, die manchen Ballast enthalten, aber auch manche guten Sachen, unter denen z. B. die Behandlung des Krankenzimmers, die diätetische Pflege des Hustens, und die zehn Seiten über die Behand- lung der Bewusstlosen und Verunglückten eine rühmende Erwähnung verdienen. Nichts kann dem Kritiker, welcher an dem Wohl und Wehe des Nebenmenschen Anteil nimmt, angenehmer sein als der Umstand, zu solcher Anerkennung berech- tigt zu sein. Leider kann sie nicht oft gezollt werden. Die Sindflut von Schriften, welche den Anspruch erhe- ben, populär zu sein, sind entweder von solchen geschrie- ben, welche den Druck als Annoncirmittel missbrauchen, oder sie sind des Vergnügens halber veröffentlicht, wel- chen es gewährt, seinen werten Namen gedruckt zu sehen, oder sie setzen zuviel voraus oder wollen zu viel lehren. Viele von ihnen machen dabei Anspruch auf unverdiente Originalität. So z. B. hat die sogenannte Volksmedicin, in Gestalt des Naturheilverfahrens, der Hydropathie u. s. w., vielfach den Anspruch erho- 36 bcn, die Entdeckerin neuer Principien in der Empfeh- lung der Kälte und besonders des kalten Wassers zu sein. Kein Anspruch ist ungerechtfertigter. Auch hier ist wieder der Beweis geliefert, dass die Volksmedicin hinter der wissenschaftlichen Medicin sich entwickelt, und nach- hinkt. Jene Behauptungen wurden zu einer Zeit aufge- stellt, in welcher speziell in Deutschland die Arzneikunst sich eben erst von der Vielverschreiberei, und die Wissen- schaft von dem Dunkel der Naturphilosophie zu erholen anfing. Die Hydropathie wurde dadurch schnell populär, mit allen ihren Uebertreibungcn und Sonderbarkeiten bei ihren eignen Jüngern. Als eine solche ist mir aus meiner frühesten Jugend erinnerlich, dass ein Professor an meinem Gymnasium ein grosser Wasseranbeter war. Zu jener Zeit gab es einen Gesundheitsapostel, der von Stadt zu Stadt zog, um Naturzustand, Wasser, Eis und Röcke ohne Knopflöcher zu predigen. Der hicss Ernst Mahner, — der ernste Mahner, — dem leider die aposto- lische Carriere später durch die Coblenzer Polizei verdor- ben wurde, welche das einfache Naturkind beim Löffel- steilen erwischte. Die beiden Wasserverehrer erzürnten sich gründlich über eine heikle apostolische Frage, indem der Eine behauptete, in einem rohen Apfel sei Wasser genug, der Andere, man müsse zu einem rohen Apfel noch Wasser trinken. Aber ich vergesse, dass ich nicht Anek- doten erzählen, sondern das geschichtliche Verhältniss der Hydropathie zur Medicin an einfachen Beispielen darlegen wollte. Aus den Lehrbüchern der Geschichte der Medicin lässt sich dasselbe leicht erläutern; Ihnen erlaube ich mir nur, ein paar alte Belege aus der Litera- tur selber vorzulegen. Die vier Bücher, welche ich Ihnen hier vorlege, sind sämmtlich zwischen den Jahren 1734 und 1811 geschrieben. Der Einblick in dieselben, und der Anblick der reichlichen Citate wird Ihnen beweisen, 37 dass die Literatur über diesen Gegenstand schon in jener Zeit eine sehr ausgedehnte war. Nun ist statt des kalten Wassers kürzlich, d. h. seit einem Dutzend Jahren, das warme Wasser, oder vielmehr das heisse, Mode geworden. Es ist nicht mehr nötig, sich mit dem Essen in Acht zu nehmen. Iss was du willst, schädlich oder nicht, süss oder sauer, langsam oder schnell, massig oder nicht, dein Magen wird un- fehlbar gesund, wenn du früh Morgens ein Glas heisses Wasser trinkst. Dem Arzt, welcher fragen wollte, ob nicht unter den Umständen, wenn doch einmal heiss ge- trunken werden muss, ein aromatischer Thee, wie Fen- chel oder Anis, besser schmecken dürfte, antwortet man mit einem mitleidigen Lächeln. Was dem Kanonen- stiefelstudiosen der saure Häring, ist dem Philistertum das heisse Wasser. Zu fragen weshalb, ist nicht nötig ; zu antworten, noch viel weniger. Das heisse Wasser ist die Reaction gegen das Eiswasser. Hat man endlich einmal gelernt oder gehört, dass der übermässige Genuss des Eiswassers gesundheitsgefährlich ist, ei, so fällt man in’s andere Extrem und glaubt, die Sünden des Tages durch ein Heisswassermorgengebet abspülen zu können. Unter den Tausenden, welche der Mode huldigen, mögen wenige sein, welche versucht haben, sich die Gründe für irgend etwas klar zu machen, was sie ihrem Leibe Gutes oder Böses anthun. Diese und andere Moden, welche durch das Haften an gesundheitswidrigen Gewohnheiten und das Haschen nach neuen Methoden und Mitteln sich kennzeichnen, sind eine trübe Erfahrung für den ge- wissenhaften Arzt, welcher gern sich auf die Intelligenz der Ratholenden stützt ; freilich auch eine Quelle des Erwerbs für das ärztliche Geschäft, dem durch jede frische Raserei neue Kunden zugetrieben werden. Ich glaube nebenbei gefunden zu haben, dass diejenigen, welche ihren Nachbarn und Geschäftsfreunden vom Doctor ab-, und zum heissen Wasser zuraten, die fleissigsten Besucher des eigenen Arztes sind. Um sich über diese und ähnliche Fragen ein Urteil zu bil- den, dazu gehört nicht gleichsam religiöser Glaube und der in Glaubenssachen geübte Fanatismus, sondern der ge- sunde Menschenverstand, der in die Schule gegangen ist. Etwas positives Wissen gehört dazu, um Fragen der Diät und der einfachen Medicin verstehen und entscheiden zu können. Dieses Wissen fehlt ; unsere Schulen geben die Vorbildung nicht. Die meisten unserer Kinder leiden schon an der Hitze und Enge der Schulstuben, dem Luft- mangel, dem Krummsitzen, zu viel, um noch mehr Lehrgegenstände ertragen zu können. Eine Aenderung in denselben thut not. Auswendig gelernte Sätze aus der Moralphilosophie kann ein gut erzogenes Kind schon entbehren, einem schlecht erzogenen sind sie ohnehin Ballast. Aber entbehren lässt sich nicht einige Kcnnt- niss des Menschenleibes und seiner Organe und deren Lebensverrichtungen. Die Grundsätze derselben lassen sich von jedem Schulkinde so leicht erlernen, wie Rech- nen und Schreiben. Wichtig genug ist es, denn die Zukunft der Nation und des Menschengeschlechtes hängt von der Kenntnis der Grundsätze und der Befolgung der Gesetze ab, wie in der Politik, so in der Diätetik.