GEMEINVERSTÄNDLICHE VORTRÄGE HERAUSGEGEBEN VOM DEUTSCHEN GESELLIG-WISSENSOHAFTLIOHEN VEREIN VON NEW YORK. No. 15. Der Scheintod. Dr. h. j. garrigues. Der Scheintod. VORTRAG GEHALTEN IM Deutschen Gesellig-Wissenschaftlichen Verein von New York: am 15. December 1886, VON Dr. h. j. garrigues. NEW YORK. Druck von Hermann Bartsch, 54 Beekman Street. 1889. ES mag manchmal für den Arzt schwierig sein zu entscheiden, ob ein Patient an einem Typhus leidet, “der sein Leben beendigen wird, oder an einem Malaria- fieber, wovon er in wenigen Tagen genesen wird. Es mag fraglich sein, ob er einen Knochen gebrochen hat, oder ob eine Verrenkung in einem Gelenk stattgefunden hat. Vielleicht ist es aber noch schwieriger mit wissen- schaftlicher Strenge zu entscheiden, ob er lebendig oder todt ist. Der Erste, der diese Frage einer gründlichen Unter- suchung unterzog, war der berühmte dänische Anatom Winsloew, in dessen Arme sein noch berühmterer Freund und Gönner Bossuet den letzten Athem aus- hauchte. Er hatte ganz besondere Veranlassung, sich mit dem Gegenstände zu beschäftigen, da er zwei Mal für todt gehalten und als Leiche behandelt worden war. Er kam zu dem Resultate, dass von allen Todeszeichen nur eins sicher sei, nämlich die Verwesung. Sein Zeit- genosse, der berühmte Chirurg Louis, trat gegen ihn auf und schrieb ein gelehrtes Buch über die Sicherheit der Todeszeichen. Durch eine Ironie des Schicksals musste derselbe Louis indessen später einen Fall mittheilen, der wenigstens bewies, dass sowohl Krankenpfleger als Aerzte sich in Bezug auf Todeszeichen irren können. Eine Frau, die zwei Tage zuvor im Hospital Hötel- Dieu entbunden worden war, fürchtete sich einer Epi- 4 demie wegen daselbst zu bleiben und ging zu Fuss den weiten Weg nach dem Salp£triere-Hospital, wo sie so erschöpft ankam, dass sie ohnmächtig wurde. Es gelang, sie zu sich selbst zu bringen ; bald aber trat ein ähnlicher Zustand ein, und sie wurde für todt gehalten. Die Kran- kenwärterinnen meldeten den Aerzten, dass sie die Leiche abholen könnten. Man liess dieselbe zwei Stunden lang auf einer Bahre im Hofe stehen, und brachte sie dann in die Anatomie, wo sie über Nacht blieb. Den nächsten Morgen kam ein junger Chirurg zu Louis und meldete ihm, dass er während der Nacht tiefe Seufzer und Schluch- zen gehört, sich aber gefürchtet habe aufzustehen. Louis begab sich sogleich in den Saal und fand die Frau todt, aber in einer Stellung, die auf das Unzweideutigste bewies, dass sie während der Nacht gelebt hatte. Sie hatte das Leichentuch zurückgeworfen, ein Bein war aus der Bahre herausgestreckt und ruhte auf dem Fussboden ; ein Arm war auf einen der hölzernen Böcke gelehnt, welche die Tischplatten stützten. Die arme Frau war also in der Nacht aus ihrer Lethargie erwacht, hatte versucht aufzu- stehen, hatte gewimmert und geseufzt, bis sie endlich der körperlichen Erschöpfung und der geistigen Aufregung erlag und ein Opfer des Todes wurde. Jetzt war sie wirk- lich todt, vorher nur scheintodt. Poetisch stellt man den Tod als einen ewigen Schlaf dar. Zwischen dem gesunden Schlaf und dem Tod ist aber ein solcher Unterschied, dass selbst ein einiger- massen intelligentes Kind sie mit Leichtigkeit von einan- der unterscheidet. Im Schlafe athmet der Mensch, (einige sogar in sehr hörbarer Weise); seine Brust bewegt sich auf und ab; gelegentlich verändert er wohl auch seine Lage ; seine Haut ist warm ; wir können sein Herzklopfen fühlen und hören. Es giebt aber einen Zustand, den man Scheintod nennt; ein Zustand, in dem das Leben 5 erloschen zu sein scheint, und aus dem der Mensch erst nach mehreren Tagen erwachen mag. Dieser Zustand ist dem wahren Tode so ähnlich, dass specielle medi- zinische Kentnisse und eine genaue Prüfung erforderlich sind, um sie nicht miteinander zu verwechseln. Die häufigsten Ursachen des Scheintodes sind Erstick- ung, Herzlähmung, Hysterie, Gehirncongestion oder Apoplexie, Kälte, Blitz, Trunkenheit, anästhetisirende Mittel (wie Aether und Chloroform), narkotische Mittel (wie Opium und Belladonna), und Körperverletzungen, die mit Gehirnerschütterung verbunden sind. In Anbetracht der traurigen Thatsache, dass Verwechs- lungen von Tod und Scheintod, besonders in Ländern, in denen das Gesetz eine sehr schleunige Beerdigung vor- schreibt, und zu Zeiten mörderischer Epidemien vorge- kommen sind, hat man sich es angelegen sein lassen, Zeichen zu finden, an denen man den wirklichen Tod erkennen kann. Besonders in Frankreich hat man sich, angeeifert von wiederholt von der Akademie ausgesetzten Preisen und von Debatten im Senat, sehr viel mit dieser Frage beschäftigt. Unter den Todeszeichen hat vor allem das Aufhören des Athmens einen starken Eindruck gemacht. In wel- chem Grade dies als charakteristisch für den Tod ange- sehen worden ist, geht schon daraus hervor, dass wir in allen Sprachen Ausdrücke wie ,,der letzte Athemzug“ als gleichbedeutend mit ,,Tod“ finden. Der einzige Unter- schied ist, dass einige das Einathmen, andere das Aus- hauchen hervorheben. Wären wir ganz gewiss, dass es wirklich der letzte Athemzug wäre, dann wäre es aller- dings sicher, dass der Betreffende gestorben wäre. Die Athmung kann aber lange, bis zu einer Stunde und sogar länger, aussetzen, ohne dass desshalb der Mensch todt zu sein braucht, oder kann auch so schwach sein, dass man 6 im Zweifel ist, ob der Mensch athmet, oder nicht. In solchen Fällen hat man von Alters her gewisse Hülfs- mittel gebraucht, um selbst die kleinste Bewegung sicht- bar zu machen. So hat man einen blanken Spiegel vor den Mund gehalten, um zu sehen, ob er durch die Ver- dichtung der Wasserdämpfe in der ausgeathmeten Luft trübe wird ; man hat eine leichte Feder oder eine Flamme benützt und beobachtet, ob sie vom Athem bewegt wird ; oder man hat ein bis an den Rand mit Wasser oder Quecksilber gefülltes Glas so auf die Brust gestellt, dass bei der geringsten Bewegung derselben die Flüssigkeit überlaufen muss. Heutzutage hat man am Stethoscop, einer kleinen Röhre, die man mit dem einen Ende auf die Brust setzt, während man an dem andern horcht, ein werthvolles Hülfsmittel, um ein feines Athemgeräusch zu hören. Es giebt aber Umstände, in denen es absolut gewiss ist, dass der Mensch längere Zeit nicht hat athmen können, und das Leben doch nicht erloschen ist. So fiel zum Beispiel ein junger Mann in Paris in die Seine und verschwand unter der Oberfläche des Wassers. Zwanzig Minuten verliefen, ehe man den Körper fand. Dann wurde er blass, kalt, schlaff, unbeweglich, gefühllos, mit dicken, blauen Lippen und offenen, starren Augen aus dem Wasser gezogen. Ein Jeder hielt ihn für todt, ausgenommen Dr. Bourgeois, der unter allgemeinem Spott und Hohngelächter anfing zu versuchen, die vermeintliche Leiche wieder zum Leben zu bringen. Mehrere Stunden vergingen, ehe sich das leiseste Lebenszeichen zu erken- nen gab, und dennoch wurden seine Bemühungen zuletzt mit Erfolg gekrönt. Bei neugeborenen Kindern kann ebenfalls sehr lange Zeit vergehen, ehe sie anfangen zu athmen. Ich selbst habe einen Fall erlebt, in dem es drittehalb Stunden 7 nahm, ehe das Kind so weit gebracht werden konnte, den ersten Athemzug zu holen. Die Abwesenheit der Athmung kann also nicht an und für sich als ein sicheres Todeszeichen betrachtet werden. Ein anderes Zeichen ist das Stillestehen des Herzens. Dieses Organ ist gewissermassen eine Pumpe, die das Blut durch den ganzen Körper treibt. Es giebt viele Mittel, mittelst welcher man sich überzeugen kann, ob es sich bewegt, oder nicht. Man legt den Finger auf eine Schlagader, z. B. am Handgelenk, wo gewöhnlich der sogenannte Puls untersucht wird, oder besser auf die linke Seite des Brustkastens, wo das Herz selbst liegt; oder noch besser, man steckt die Finger unter die Rippen der linken Seite hinein, wodurch man in noch direktere Be- rührung mit dem Herzen kommt, und den sogenannten Herzstoss, die Pulsation des Herzens, fühlen kann. Noch besser untersucht man die Bewegung des Herzens, indem man das Ohr an den Brustkasten legt, wobei man einen charakteristischen Doppellaut vernimmt, und diese Probe gewinnt wiederum an Schärfe, wenn man ein Stethoskop zur Hülfe nimmt. In einer der obenerwähnten Preisschriften gab Bouchut im Jahre 1837 an> dass es drei sichere Todeszeichen gebe, nämlich das Ausbleiben des Herzschlages während einer oder zwei Minuten bei stethoskopischer Unter- suchung ; die Erschlaffung sämmtlicher Schliessmuskeln und das Phnsinken der Augen mit Bildung eines schlei- migen Ueberzuges auf der Hornhaut. Das Prüfungs- comite verwarf die beiden letzten Zeichen und hiess nur das erste gut. Es ist indessen vielfach bewiesen worden, dass der Herzschlag länger als zwei Minuten ausbleiben, und der Mensch doch lebendig sein kann. Aus den zahlreichen hierher gehörigen Beobachtungen kann ich nur ein paar mittheilen. 8 Dr. Tournier in Paris wurde im Jahre 1836 eiligst zu -dem achtzigjährigen General Baron von V. gerufen, der angeblich eben gestorben war. Er fand den alten Mann auf dem Rücken liegend, mit offenem Mund und offenen Augen. Der Körper rührte sich nicht. Er war pulslos. Ein vor den Mund gehaltener Spiegel wurde nicht trübe. Die Flamme eines Streichholzes wurde durch keinen Hauch bewegt, und an die Nase gehalten rief sie keine Schmerzäusserung hervor. Die stark erweiterten Pupillen contrahirten sich nicht, wenn ein Licht an sie heran- gebracht wurde. Eine sorgfältige Auscultation liess nicht den leisesten Herzton vernehmen. Natürlich hielten alle, den Doktor mit einbegriffen, den General für todt. So war die Situation um vier Uhr Morgens, aber siehe da, um zehn Uhr bewegte er sich, drehte sich um und fragte, wo er sei. Danach lebte er noch zwei Tage. Vor Kurzem haben die New Yorker Blätter eine ganz ähnliche Geschichte enthalten. Ich habe mich aber in meiner Auswahl von Fällen auf solche beschränkt, die von Aerzten untersucht und beschrieben worden sind. Der berühmte Pariser Arzt Brächet hat den folgenden Fall berichtet: Der 33jährige Herr D. fühlte sich nicht recht wohl und fiel plötzlich in Ohnmacht. Kein Puls war zu fühlen, kein Herzschlag zu hören, obgleich drei Minuten lang mit dem Stethoskop gehorcht wurde. Wäh- rend der folgenden acht Minuten untersuchte er zu wie- derholten Malen Puls und Herz, ohne eine Andeutung von Blutkreislauf zu finden. Unterdessen wurden starke Stimulantien angewendet, und als einige Tropfen Aether in die Nase gegossen wurden, zeigte sich eine leichte Zuckung der Oberlippe. Zwanzig Minuten vergingen, ehe das Herz zu schlagen anfing, und dennoch erholte